Mo, 11. Juni 2012

EVANESCENCE

Maaghalle (Zürich, CH)
12.06.2012

Wer sich an dem Tag, an dem die Ärzte das Hallenstadion rocken, eine Zugfahrt von Bern nach Zürich antut, muss entweder des Wahnsinns sein oder einen verdammt guten Grund haben. Oder beides, wie ich.

Sechs Jahre sind vergangen, seit Evanescence das letzte Mal die Schweiz beehrt haben, um ihr zweites Album «The Open Door» zu promoten. Inzwischen veröffentlichte das Quintett um Frontfrau Amy Lee ihr drittes, selbstbetiteltes Werk und vollzogen damit eine musikalische Wandlung, jedoch ohne sich selber dabei untreu zu werden. Ich war bis dato noch nie an einem Konzert der Amerikaner, und so fieberte ich dem Auftritt gespannt entgegen.

Nachdem die Schweizer von The Beauty Of Gemina mehr schlecht als recht versucht hatten, Stimmung zu machen, übernimmt Amy Lee mit ihren Mannen das Ruder – pünktlich um 21.15 Uhr schleudert sie der sehr gut gefüllten Maag-Halle «What you want» entgegen und macht gleich zu Beginn allen klar, dass sie heute Nacht keine halben Sachen zu erwarten hätten.

Auf den Opener folgt nahtlos «Going Under» und damit der einzige Wermutstropfen des ganzen Abends: In den tieferen Tonlagen ist Amy nämlich kaum zu hören. Doch in Anbetracht dessen, dass der Mix ansonsten hervorragend ist, ist dies auf hohem Niveau gejammert – Kompliment an dieser Stelle an den Herrn am Mischpult! Hier fällt mir auch auf, dass der Schlagzeuger einer von der Sorte ist, welche die Bühne mit einer Manege, sich selbst mit einem Jongleur und ihre Schläger mit Keulen verwechseln, was in den allermeisten Fällen auf Kosten der Präzision geschieht. Nicht so bei Will Hunt, der eine meiner Meinung nach viel zu selten vorkommende Virtuosität und Genauigkeit mit einer sicht- und fühlbaren Spielfreude kombiniert. Bravo!

Nach einem knappen «Thank you» folgt „The Other Side“, dazu wird meine bisherige Annahme widerlegt, die Band hätte vollständig auf ein Backdrop verzichtet – raffiniert erscheint das Bandlogo nur in bestimmten Momenten. Während «Weight Of The World» scheinen Publikum und Band sich definitiv gefunden zu haben, Amy Lee honoriert dies bei «Made Of Stone» mit einer gewaltigen Demonstration ihres Stimmorgans, der Wechsel von der Bauch- zur Kopfstimme überzeugt vorbehaltslos. Der nächste Song bricht das Eis vollends: Ein Flügel wird auf die Bühne gerollt, doch bevor Amy «Lithium» anstimmt, lässt sie es sich nicht nehmen, das Publikum scheu, ja fast schon teilnahmslos, nach seinem Befinden zu fragen.

Während der nächsten zwei Songs bleibt der Flügel, auch wenn sich die Gangart nach dem balladesken «Lost In Paradise» mit «My Heart Is Broken» wieder etwas verschärft, gefolgt von «Sick» und dem sehr erfrischenden «The Change». Das darauffolgende Lied «Whisper» wird vom Publikum begeistert gefeiert, Amy bedankt sich auf ihre ureigene Art mit vollem Einsatz und wirkt dabei wie eine eingekerkerte Raubkatze, nur um dann bei «Sober» beinahe wieder angreifbar und verletzlich zu erscheinen.

Bei «Imaginary» erwacht dann auch die bisher etwas farblos wirkende Saitenfraktion aus ihrer scheinbaren Lethargie, das Resultat ist eine eindrückliche Soundwand, welche die Menge gnadenlos überrollt und wohl auch die letzten zum Anfang leider ziemlich gut vertretenen Chorknaben und -mädchen davon überzeugt, dass still stehen nun definitiv nicht mehr drinliegt – entsprechend steigt die Temperatur auf sommerliche 35 Grad (Angabe ohne Gewähr). Überhaupt, wer jetzt noch einen auf Litfasssäule macht ist selber schuld, denn nach «Bring Me To Life» verabschieden sich die Fünf, jedoch nicht, ohne vorher noch einmal alles zu geben. Das Volk singt lauthals mit, Will malträtiert sein Schlagzeug derart heftig, dass es eine Schraube lockert, die er aber ohne mit der Wimper zu zucken gleich wieder anzieht während er mit der anderen Hand weiterspielt. Die Party scheint perfekt; genau der richtige Zeitpunkt also, sich zu verabschieden.

Doch das Publikum lässt das nicht auf sich sitzen und veranstaltet einen Heidenlärm. Schliesslich fehlt noch etwas. Der Lärm wächst beinahe ins Unermessliche, als kurz darauf der Flügel wieder hereingerollt wird. Doch bevor das offenbar von allen sehnlichst erwartete «My Immortal» in einem Feuerzeug-Lichtermeer gebadet wird und ich endgültig kapituliere, zaubert Miss Lee mit «Your Star» noch einmal ordentlich Gänsehaut auf unzählige Arme und Nacken, flankiert von brachialen Riffs.

Fanzit

Besonders seit dem Abgang von Gründungsmitglied Ben Moody ist Amy Lee das, was Evanescence ausmacht. Mit den Worten «I don’t like much talking, let’s just play this f***ing songs!» konstatiert die Powerfrau, was ich keine drei Minuten zuvor zu Papier gebracht hatte; nämlich dass sie eine Vollblutmusikerin ist, die die Musik braucht wie die Luft zum Atmen. Dementsprechend hat man den Eindruck, dass sich die Energie der 31-jährigen entgegen aller Gesetzmässigkeit trotz vollem Einsatz während eines Konzertes konstant erhöht, fast als würde sie mit jedem Song etwas davon vom Publikum absorbieren. Ihre Mitmusiker verblassen förmlich neben jener vollkommenen, raumfüllenden Erscheinung zu der die Frau wird, wenn sie Musik machen kann, es scheint fast so, als vergesse sie dabei die Welt um sich herum; und ich kann nicht umhin, zutiefst geehrt und berührt zu sein darob, dass ich an diesem Augenblick, dieser Reise teilhaben darf – der Reise in die wunderbare Welt der Amy Lee.


Wie fandet ihr das Konzert?

12.06.2012
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Autor Bewertung: 9/10