Die Metal-Revolution zwischen Moral und Wahnsinn
Ich fahre heute mit gemischten Gefühlen nach Zürich. Bei meinem letzten die Apokalyptischen Reiter-Konzert im Z7 am 16.11.2008 war ich etwas enttäuscht von der sonst so legendären Performance der Band.
Aber die Hinfahrt verspricht schon einiges bzw. genau das was die Reiter sind: Abwechslung pur. Los fahre ich im leichten Regen, der dann sintflutartig wird und später zu leichtem Hagel übergeht – bis dann plötzlich die Sonne scheint (vorerst mal vom Himmel …). Das Komplex 457 ist gut zur Hälft gefüllt und wenig Kiddies, sondern schon eher erfahrene Metalheads so 25plus. Los geht’s wie angekündigt pünktlich um 21.20 Uhr mit dem langen Intro «Charlie Speaks» – der Schlussrede von «Der grosse Diktator» mit Charlie Chaplin (Danke für den Hinweis an Stephanie Schultz).
So richtig los geht’s dann mit dem ersten Knaller – «Wahnsinn» – aus dem genialen 2004er Album Samurai. Nachdem wir aus einer Kanone mit Riesenkonfettis beschossen wurden, geht’s nahtlos über zum dritten Album aus dem Jahre 2000 (All You Need Is Love) mit dem typischen DAR-Kracher «Unter der Asche». Der erste Eindruck vom Publikum hat nicht getäuscht. Wie die Reiter sind diese heute Abend da, alles zu geben und so startet auch schon der erste Pogo.
Gründer und Sänger Fuchs begrüsst uns lemmymässig reduziert: «Wir sind die Apokalyptischen Reiter und wer Sturm sät, wird Sturm ernten». Und weiter geht’s mit einem absoluten Klassiker, der die wohl abwechslungsreichste Metal-Band wunderbar repräsentiert. Die einzelnen Strophen sind auf Deutsch, während der Refrain von «Riders On The Storm» auf Englisch gesungen wird. Der Bandklassiker stammt vom 2006er Album gleichen Namens.
Zwei Jahre später erschien «Licht» und davon kündigt Fuchs den nächsten Nackenbrecher mit den Worten «Es wird schlimmer als es ist, …» was das Publikum vervollständigt mit «… doch wir werden besser als das feige Heer von müden Allesfressern.» Im so typischen Reiter-Midtempo-Part dann globales Headbangen, was von Fuchs verneigt wird.
«Es ist Zeit für eine Revolution» aus dem Riders On The Storm-Album. Keyboarder Dr. Pest steigt mit seinem Sado-Maso-Kostüm zum ersten Mal von seinem erhöhten Ritiseili (Schaukelstuhl) runter und schwingt dabei die lederne Peitsche. Die Reiter sind nebst ihrem einzigartigen, geilen Melodic-Thrash-Death-Folk-Metal vor allem viel Wahnsinn und das ist auch der Grund, warum ich jetzt diesen doch sehr ungewöhnlichen – etablierten – Auftritt von Dr. Pest nicht einmal mehr hinterfrage. Die Reiter sind insbesondere auch Revolution mit ihrem einzigartigen Stil. Wunderschöne Melodien wechseln sich abrupt mit brachialem Death-Metal ab. Zur Revolution schwenkt Fuchs die eigene Reiter-Revolutions-Flagge, während Dr. Pest wieder zurück auf seiner Schaukel die Meute von oben mit der Peitsche weiter antreibt.
«Und jetzt liebe Freunde, lassen wir den Adler fliegen …» Diese Ansage nimmt ein Metalhead wörtlich und lässt sich von Fuchs auf die Bühne für einen Stage-Dive zerren. Fuchs fordert die Leute vorne bei der Bühne kompakter zu stehen (damit der Adler auch weich landet), ermutigt den Stagediver zu mehr Anlauf, während dieser mit Trommelwirbeln angetrieben wird. Na ja, das war ein kurzer Flug, dafür geben die Reiter umso mehr Gas. Und auch das Publikum macht mächtig mit, mit der Aufforderung «Ich will, dass ihr mit mir springt» tun dies mehr als ¾ der Anwesenden.
Eins ist jetzt schon klar, dieses Mal überzeugen mich die fünf Deutschen aber auch das hörige Publikum restlos.
«Wir reiten» vom aktuellen 2011er Album «Moral & Wahnsinn» wird zuerst alleine vom Gitarrist und neusten Band-Mitglied Ady akustisch angestimmt, Bassist Volk-Man kommt dazu. Die beiden flankieren Fuchs links und rechts wie Zwillinge mit ihrem Synchron-Bangen. Nachdem auch der Schlagzeuger Sir. G eingrifft, erscheint auch Fuchs wieder – dieses Mal oben ohne, was sich nur auf die Kleidung bezieht, denn Fuchs trägt einen perfekten Teppich über seiner stattlichen Brust. Mit seiner bis über den Bauchnabel gezogenen Arbeiter-Latzhose und übergrossem Lincoln-Bart wirkt er wie ein Amischer (religiöse Gemeinschaft in den USA, welche jeglichen technischen Errungenschaften ablehnt). Sein in diesem Song verwendeter Mikständer im Stile der 20er Jahre unterstützt diese Zeitreise zusätzlich.
Mit neuer Jacke à la Zirkusdirektor fährt Dompteur Fuchs von hinten auf einer Hebebühne hoch, für den ebenfalls neuen Song «Die Boten».
Für die «Schönheit der Sklaverei» von All You Need Is Love steht Dr. Pest nicht nur wegen seiner zu diesem Stück passenden Kluft im Scheinwerferlicht, sondern auch wegen dem von ihm so zärtlich-schön gespielten Piano-Intro. Sein Mini-Leder Outfit will aber zu dieser Kammermusik nicht so recht passen … bis sein Spiel vom Death-Metal-Strobo-Gewitter unterbrochen wird. Passend zum Song ist Fuchs an die Bühne gekettet und singt auf seinen Knien von der Gier auf dieser Welt.
Während Fuchs auf der Hebebühne mit seinen Ketten verschwindet, stehen die restlichen vier Reiter für eben diesen Song bereit (Vier Reiter stehen bereit); dem ersten aus meinem Lieblings- weil abwechslungsreichsten Album der Reiter (Have A Nice Trip von 2003). Das Strobo-Death-Gewitter startet wieder, als Fuchs mit einem langen Ledermantel und aufgesetzter Sonnenbrille erscheint. Damit würde er perfekt in einen Matrix-Film passen. Dr. Pest schwingt weiter seine Peitsche. Zum Abschluss dieser weiteren Reiter-Hymne zündet Fuchs wieder die Konfetti-Kanone.
Weiter geht’s mit «The Fire» vom 99er Album «Allegro Barbaro». Anfangs noch ziemlich balladenmässig, wird dieses aus den Anfangstagen mit gewaltigen Growls, welche Johan Hegg‘s in nichts nachstehen, auf Englisch gesungen.
Mit «Nach der Ebbe» vom Licht-Album kommt Dr. Pest wieder mit seinem schönen Piano-Spiel zum Zug. Der schleppende Song lädt die Meute zu einem kollektiven Cliff-Burton-Stile-Headbanging ein. Hammermässig anzusehen.
Es ist Zeit für die Frage der Fragen: «Seid ihr noch da?» Weiter meint Fuchs: «Genug von diesem traurigen Zeug. Kommt mit mir Sinnenbaden in eine andere Welt!» Bei «Komm» von Have A Nice Trip gibt’s dann auch fröhliches Rumgehüpfe auf und vor der Bühne.
«Gibt’s hier Seemanns Bräute?» Kaum von Fuchs gefragt, steht auch schon ein hübsches Mädel mit Hammerfigur, bekleidet mit einem Girlie-Reiter-Shirt, Hot-Pants und schwarzen Strümpfen, neben ihm auf der Bühne. Von so einer Metalbraut träumt doch jeder Mann auf hoher See. Aus den Lisa, Lisa-Rufen schliesse ich darauf, dass sie eben Lisa heisst. Die heisse Lisa wird dann in ein schwarzes Gummiboot gesetzt und darf zu «Seemann» vom Riders-Album Crowd-Surfen. Zurück auf der Bühne stellt sie auch ihre Headbanging-Fähigkeiten zur Schau, während Fuchs auf Knien sie zu Tanze bittet. Mit einem Handkuss wird die Seemanns-Braut verabschiedet. Fuchs: «Komm, ich zeig dir einen anderen Weg von der Bühne … » und übergibt sie einem Roadie «Sei gut zu ihr …», um sich sogleich recht zu fertigen «Das ist jetzt nicht was ihr denkt …».
Fuchs bestraft unsere schmutzigen Gedanken mit dem nächsten deftigen Song «Iron Fist» vom Erstling «Soft & Stronger» aus 1997 und den einleitenden Worten: «Ihr Unholde bekommt, was ihr verdient!».
Mit «Willkommen zum letzten Song für heute Abend. OK, ihr wisst was eine Wall Of Death ist.» kündigt sich langsam aber sicher die Apokalypse des heutigen Konzertabends an. Zu piratenmässiger Handorgel-Begleit-Musik scheidet sich das Publikum wie bei Moses das Meer in zwei Hälften – ein paar Fahrlässige tanzen in der freigewordenen Mitte zu den lustigen Klängen … bestrafen dies dann aber so gleich als lebende Knautschzone mit dem Start von «Reitermania» von Samurai. Weiter schön gehorchen tun die Metalheads auch auf die Aufforderung «Springt, springt» und praktisch alle springen zum bisher schnellsten Song von heute Abend. Am Ende von diesem steht Fuchs als Spitze einer lebenden Pyramide auf den Oberschenkeln des Bassisten und Gitarristen. DAR sind nicht nur Revolution, Wahnsinn und Moral, sondern auch ein bisschen Zirkus.
Die Reiter verlassen zum ersten Mal die Bühne. Nach ein paar Zugabe-Rufen (in solchen Momenten vermisse ich immer wieder das in der Schweiz so einmalige, klassische «Ooo oohohoho ooo oohoho …») sind die Jungs auch schon wieder auf der Bühne für einen weiteren Klassiker – die Halbballade «Das Paradies» von Have A Nice Trip. Weiter geht’s mit «Friede sei mit dir» von Riders und der gleichnamigen EP.
Mit «Roll My Heart» von Samurai folgt der Mitsing-Klassiker begleitet von einem anständigen Pogo, welcher die Hälfte des Publikum involviert.
Die Band verlässt zum zweiten Mal die Bühne, kommt zurück um sich zu verneigen. Fertig? Das war jetzt aber etwas gar abrupt und irgendwie gäbe dies dem Abend einen schalen Nachgeschmack zu einem bisher Hammer-Konzert. Es ist 22.40 Uhr – nach einer Stunde und zwanzig Minuten scheint es vorbei zu sein mit den Reitern. Es gibt zwar noch ein paar zögerliche Zugabe-Rufe, es wird sich wohl aber nur um Sekunden handeln, bis das Saallicht angeht. Doch plötzlich erklingt die Gitarre im Takt der Zugabe-Rufe und es kommt nochmals Hoffnung auf, dass die Apokalypse noch nicht eintrifft.
«Habt ihr denn immer noch nicht genug? Wer jetzt das Bedürfnis hat: Die Sonne!» Also doch einen würdigen Abschluss und ein paar hatten doch tatsächlich das Bedürfnis auf die Bühne zu stehen, um uns während dem ganzen Song «Die Sonne scheint (mir aus dem Arsch)» von Samurai ebendiesen zu zeigen. Na ja, da hätte wohl nicht nur ich lieber nochmals Lisa auf der Bühne gesehen. Zumindest Dr. Pest hätte jetzt endlich mal seine Peitsche richtig einsetzen können.
Trotz allem, war dies (der Song!) ein würdiger Abschluss. Die Einer-Geht-noch-Rufe waren jetzt vergebens, dass Saallicht geht definitiv an.
Es war geil. Irgendwie ganz gemütlich. Der Sound nicht zu laut und fürs Komplex auch nicht so schlecht, gute Leute die zwar nicht so zahlreich erschienen, dafür umso mehr mitmachten und abgingen, gute Songwahl welche alle Alben der Band berücksichtigte und einen charismatischen Fuchs in Top-Form. Er war der Leader eines Arbeitervolks, das am Sonntag frei hatte für einen Konzertbesuch, und als solcher stand er ab und zu hoch oben zwischen Dr. Pest’s Schaukel und Schlagzeug. Dies wirkte jeweils wie eine lebende, monumentale Arbeiterstatue. Es hat einfach Spass gemacht! Wir sind die Helden der Arbeit.
Doch bevor ich endlich ins Bett komme, noch einen Nachtrag zu meiner Heimfahrt nach Luzern. Nachdem ich mir das heutige Eishockey-Resultat in den Nachrichten auf DRS3 anhörte – die Schweiz gewann gegen Weissrussland – fragte der Moderator Philipp Gerber was wir gerade so machen. Spontan rief ich ihn an und sagte, dass ich eben an einem geilen Konzert war. Wie zu erwarten war ihm der Name der Band kein Begriff («Haben die schon eine CD veröffentlicht?»). Zu seiner Ehrverteidigung: Er konnte meinen Wunsch nach einem Reiter-Song (z.B. Das Paradies) nicht erfüllen, da bei DRS3 schlichtweg nichts von unseren heutigen Helden vorhanden war …
Ich hab dann vorher DRS3 / Philipp ein paar Links zu Reitersongs gemailt …
Es ist jetzt 3:30 Uhr. Bevor ich diesen wohl längsten Konzert-Review hochlade – danke fürs bis hierher lesen – werde ich diesen morgen früh besser querlesen … (was inzwischen passierte, wenn du das liest).