Unglaubliche 8 Jahre ist Tarja seit ihrem Rausschmiss bei Nightwish schon Solo unterwegs. Wobei Solo ist sie nach den vielen Jahren und mit dem einen oder anderen fixen Mitstreiter auch nicht mehr wirklich – insbesondere Mike Terrana an den Drums ist von Anfang dabei und vor allem live ein wichtiger Bestandteil von Tarja. Sie sind ja auch gemeinsam mit dem The Beauty & The Beat Projekt unterwegs.
Blenden wir zurück zum letzten Konzert in der heimischen Hartwall Areena, der Abschluss der legendären Tour zum Erfolgsalbum „Once“. Tarja fand nach der Hammershow, welche später als Live-DVD als „End Of An Era“ veröffentlicht wurde, den blauen Brief in ihrer Garderobe. Für alle Nightwish Fans der Schocker schlechthin. Wenn es ein Worst-Case-Szenario gab, dann war dieses damit eingetroffen.
Doch Tarja ging selbstbewusst ihren Weg und blieb trotz ihrer klassisch ausgebildeten Stimme der Metalgemeinde erhalten. Nightwish tat dasselbe. Tarja war den ehemaligen Bandkollegen jedoch immer einen Schritt voraus. Ihr mehr als nur hörenswertes Solodebut „My Winterstorm“ erschien lange bevor Nightwish „Dark Passion Play“ mit neuer Sängerin Anette Olson rausbrachte. Auch der Nachfolger „What Lies Beneath“ war Nightwish Monate voraus.
Während der letzten 7 Jahre machte Tarja was sie am besten kann. Live singen. Ich kenne keine bessere, fesslerende Stimme und niemand der auch nur annähernd eine solche Ausstrahlung auf der Bühne hat. Nur schon wenn ich das schreibe, kriege ich beim Gedanken daran Hühnerhaut.
Tarjas Soloalben sind um einiges anspruchsvoller als die eingängigen Melodien aus Tuomas Feder bei Nightwish. Und vorweg, ich vermiss halt schon die epischen Nightwish-Songs mit Tarjas Stimme. Trotz aller Streitigkeiten bleibt die Kombination Tarja-Tuomas unerreicht. Zusammen waren sie am besten.
Was jedochdie Sololeistung von Tarja nicht schmälern soll. Sie geht konsequent ihren weg, bringt in ihren eigenen Liedern die 3-Oktaven-Stimme und ihre klassische Ausbildung noch mehr zur Geltung. Bei den ersten beiden mit Platin und Gold ausgezeichneten Alben war dies schon sehr ausgeprägt. Mit dem neusten und 3. Streich „Colours In The Dark“ soll dies nochmals verstärkt werden. War es eventuell das Mädchen, dem Tarja letztes Jahr das Leben schenkte, der Ursprung für ein bisschen mehr Farbe in die teils durchaus auch düsteren Songs? Gespannt höre ich in Colours In The Dark rein und lasse mich diesbezüglich überraschen.
Also, los geht’s mit „Victim Of Ritual“ und hier gibt die Finnin mit Wohnsitz Buenos Aires gleich wortwörtlich den Marsch vor. Etwas ungewohnt der tambourmässige Einstieg, begleitet von Orchestermelodien. Aber das kommt doch schon mal sehr gut – sehr theatralisch. Richtig ungewohnt wird es dann beim Refrain. Selten hat Tarja ihren genialen finnischen Akzent so durchklingen lassen und mit einem extrem stark rollenden R – welches aus einer Ricola-Werbung stammen könnte – betont sie das Ritual im ersten Moment sehr gewohnheitsbedürftig. Aber wie bei den meisten Tarja-Songs ergibt sich einem deren Schönheit durch die Komplexität erst beim x-ten Mal reinhören. Inzwischen höre ich Victim Of Ritual schon zum 5. Mal und mit jedem Mal gefällt mir dieser Song besser. Vor allem auch grad der spezielle Refrain und dem von Tarja gesungenen Chor. Da kann ich eh nie genug davon kriegen. Definitiv schon mal ein genialer – wenn auch nicht grad einfacher – Einstieg in Colours In The Dark.
Bei „500 Letters“ mache ich mir sofort ein paar Notizen für ein baldiges Interview mit der Göttin des Symphonic-Metals. Sie singt „Why do you love me? Why do you want me? 500 letters from a stranger … I can’t take it anymore.“ Handelt es sich hier um einen Stalker? Eine Erfahrung die Tarja mit diesem Song verarbeitet? Nun, ich wars nicht. (Später erfahre ich – und es ist ja offensichtlich – dass Tarja hier zumindest teilweise ihre Erfahrung mit einem Stalker verarbeitet). Trotz mehr Härte als beim Opener kommen auch hier eingängige Melodien insbesondere im Refrain nicht zu kurz. Von mir aus darf es gerne so weitergehen.
Vorerst wird es mit „Lucid Dreamer“ aber ein bisschen ruhiger, verspielter und auch klassischer. Als Klassikliebhaber – und das muss man bei Tarjas Alben ansatzweise sein – gefällt mir dieses Stück ganz gut, auch wenn hier die grossen Melodien fehlen. Mit seinen über 7 Minuten ist es einer der epischeren Songs mit starken Anleihen zur klassischen Filmmusik.
Bei „Never Enough“ legt Tarja ein paar Briquets dazu. Dieser klassische Tarja-Stampfer war bereits auf dem letztjährigen Live-Doppel-Album „Act 1“ enthalten und blieb mir schon damals sofort hängen. Das tut er auch auf Colours In The Dark – auch wenn er jetzt in der Studio-Aufnahme noch etwas aggressiver daherkommt. Wird definitiv ein Live-Klassiker bzw. ist praktisch schon einer.
Während uns Tarja bei ihrem Solodebut zu ihrem Winterstorm begrüsste – gemäss ihrer Aussage sind wir, ihre Fans, der Winterstorm – tut sie dies auf dem aktuellen Album zu einer mystischen Reise: „Mystique Voyage“. Beim gesprochenen Intro mit ihrem typisch-bezaubernden finnischen Akzent lädt sie uns zu dieser ein: „Welcome to my mystique voyage. A inner trip to fantasy, freedom and love. A conquest of fear, lonesomeness and dislike. Welcome to my world.“ Auf diesen Trip lasse ich mich gerne ein. Diese Worte beschreiben kurz und knapp worauf man sich beim Hören von Colours In The Dark einlässt. Es ist eine Achterbahn der Gefühle. Verträumte Fantasien und Melodien wechseln sich laufend ab mit stumpfen Gitarrenriffs, harten Beats und Melancholie ab. Nicht ganz überraschend verrät uns Tarja, dass dieser Song schon lange in ihrer „musikalischen“ Schublade lag und jetzt die Zeit reif gewesen sein, diesen aufzunehmen und aufs Album zu packen. Das erklärt auch, dass dieser Song das Solospektrum von Tarja gut repräsentiert.
Wo Tarja drauf ist, ist nicht nur Metal aber auch nicht nur Klassik drin. Wer Tarja kauft, der kauft Musik zum einem Fantasie-Romance-Road-Movie-Action-Thriller. Was bei anderen Bands oft zum Overkill verkommt, hält Tarjas einzigartige Stimme immer zusammen. Es passt einfach immer. Mystique Voyage ist ein typischer Stellvertreter des ganzen Albums und Solo-Schaffens von Tarja. Er beinhaltet all diese Komponenten.
Nomen est omen und so kommt „Darkness“ – Cover von Peter Gabriel – um einiges düsterer rüber als die ersten 5 Songs. Und zum ersten Mal verzerrt Tarja zumindest teilweise ihre Stimme. Das hört sich zwar gut an, aber ist irgendwie doch schon fast eine Todsünde mit Tarja’s Hammerstimme. Macht man das nicht bei Sängern, deren Stimme nicht immer erhaben sind? Bei Tarja nicht mein Favorit. Tarja hatte bei den letzten Albums eine besser Wahl des jeweiligen Coversongs – insbesondere „Poison“ auf Winterstorm ist der Hammer.
„Deliverance“ ist ein weiterer 7 Minüter mit starken Anleihen an die klassische Filmmusik. Aber nicht so fesselnd wie Lucid Dreamer. Während „Neverlight“ ein weiterer Stampfer ist. Hier wünschte ich mir mal ein paar eingängigere Gitarrenriffs, ich bin nicht so ein Fan des ewigen Gestampfe Marke Rammstein.
Eine wunderschöne melancholische Ballade folgt kurz vor Schluss mit „Until Silence“. Und dann schliesslich ganz am Ende des bunten Feuerwerks das fast nicht enden wollende Schlussboquet „Medusa“ über 8 bombastische Minuten.
Fanzit: Wie seine Vorgängeralben ist auch Colour In The Dark ein Meilenstein im Symphonic-Opera-Metal. An Tarjas Stimme kommt nach wie vor keiner und keine ran. Sie bleibt die unbestrittene Königin. Für Liebhaber von Metal, Rock, Klassik sei auch diese Scheibe wärmstens empfohlen. Für bereits bestehende Tarja Fans ist sie Pflicht. Colours In The Dark verspricht was drauf steht (trotz des nicht gerade berauschende Album-Covers), viel Tarja, einfach noch bunter und noch abwechslungsreicher als bisher, was sich auch in der Länge der Songs widerspiegelt. Kaufen.
Anspieltipps: 1 Victim Of Ritual, 2 500 Letters, 10 Medusa
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August 2013 (pam)
- Victim Of Ritual
- 500 Letters
- Lucid Dreamer
- Never Enough
- Mystique Voyage
- Darkness (Cover von Peter Gabriel)
- Deliverance
- Neverlight
- Until Silence
- Medusa (feat. Justin Furstenfeld)