Mit „Beyond the Red Mirror“ haben die Krefelder Blind Guardian im Januar 2015 fraglos ein Highlight des Jahres veröffentlicht. Parallel dazu spielte die Band auf der „70‘000 Tons of Metal“ – Kreuzfahrt auf, quasi ein Warm Up zur grossen Tour, die im April startet.
Hansi Kürsch und Co. waren augenscheinlich sehr begehrte Gesprächsgäste auf dem Schiff, sodass statt Einzelabrieb grad direkt eine Pressekonferenz angesetzt wurde. Viele Medienvertreter sind dann jedoch diesem Termin fern geblieben – gut für Metalinside, denn so konnte ich mich ausgiebig alleine mit dem Sänger unterhalten, die zwei drei anderen anwesenden Journalisten hörten einfach nur zu… und da Hansi bekanntlich viel zu erzählen weiss, ist das eine recht ausgedehnte Geschichte geworden!
Metalinside (Kaufi): Ich war an Eurer Listening Session von Eurem neuen Album im Ice Rink (siehe Review Kreuzfahrt 2015). Ihr habt alle einen recht relaxten Eindruck gemacht da. Herrscht bei Euch keine Nervosität, wenn Ihr ein neues Album auf diese Art dem Publikum präsentiert? Ist das schon „Business as usual“?
Hansi Kürsch: Nein. Es ist Selbstvertrauen. Wir haben alles was möglich war gemacht, um das möglichst beste Album zu produzieren. Wenn du das gemacht hast, das darf ich auch mit Stolz sagen, dann gibt’s keinen Grund nervös zu sein. Im Prinzip ist es nur eine Auslieferung. Das ist das was man hat – und jetzt muss man damit leben. Ich glaube zudem, dass es mittlerweile den meisten Leuten klar ist, dass man ein Blind Guardian Album nicht nach einem Durchgang beurteilen kann. Aber es ist schon eindrücklich, wenn man in einer solchen Umgebung mit einer solchen Anlage das Album ein erstes Mal präsentieren kann. Und das hat uns auch Vertrauen gegeben. Die wirklich guten Reaktionen, die wir ansonsten bis jetzt erhalten haben, haben das auch zusätzlich verstärkt. Es gibt also mehrere Gründe, aber es ist definitiv nicht einfach Business. Wir haben mit dieser Produktion erreicht, was wir wollten, und wir stehen zu hundert Prozent dahinter. Es kann natürlich sein, dass wir in vier Jahren das Gefühl haben, dass da was fehlt – aber das ist dann eine ganz andere Situation.
MI: Wie lange dauert es, bis Ihr einen Song aufgenommen habt? Das letzte Album liegt mehrere Jahre zurück. Nehmt ihr Song für Song auf oder arbeitet ihr gleichzeitig an verschiedenen Nummern?
Hansi: Wir arbeiten stückweise. Wir haben verschiedene Perioden und verschiedene Sessions, bei denen wir den Fokus auf zwei bis drei Songs legen. Normalerweise versuchen wir in diesen Phasen diese Songs zu beenden und dann gehen wir zurück zum Songwriting. Aus produktionstechnischer Sicht würde ich sagen, dass jeder Song etwa sechs bis zehn Wochen braucht. Das ist natürlich auch abhängig von der Länge, und auch von den Arrangements. Wenn’s Orchester hat, welches saubere Vorbereitung braucht, dann braucht das mehr Zeit als eine Piano-Ballade wie „Miracle Machine“, welche in vier, fünf Tagen gemacht ist. Aber generell dauert es sechs bis zehn Wochen, würd ich mal sagen. Die ganzen Aufnahmen dauerten etwa 14 Monate, würd ich schätzen. Und das über eine Zeitspanne von zweieinhalb Jahren. Und weitere zwei Monate waren nötig für den Mix.
MI: Ich hab Euer Album sicher schon ein dutzend Mal gehört und es ist kein einfaches Album. Ausser „The Ninth Wave“ gibt’s keinen Song, der mir sofort im Ohr hängengeblieben ist. Den Rest muss man sich wirklich richtig anhören. Ist das Absicht oder Zufall?
Hansi: Die Reaktionen sind äusserst unterschiedlich. Einige sagen, es ist recht eingängig – zumindest für Blind Guardian, andere sagen es ist eher anspruchsvoll. Ich stecke da irgendwo in der Mitte. Ich bin mich so an die Songs gewohnt, da ist für mich nichts mehr überraschend. Als wir die Songs geschrieben haben, hatte ich bei einigen das Gefühl, dass sie „easy going“ sind, andere hingegen fand ich ebenfalls anspruchsvoll.
Komisch, dass du „The Ninth Wave“ erwähnst, denn dies ist in vielerlei Hinsicht einer der anspruchsvollsten Songs. Es ist eine der eher untypischen Blind Guardian Nummern. Wir haben diesen grossen Moment mit dem Acapella Chor, und wir haben ein paar nette Effekte im Song, aber sonst ist es recht progressiv und aggressiv. Ich hatte nicht wirkliche Bedenken zu diesem Song, aber wir wussten, dass er die Leute überraschen wird, während „Holy Grail“ oder „Twilight of the Gods“ sogar die Old School Blind Guardian Fans anziehen müssten.
Mit den Refrains ist es das gleiche: einige sagen, dass wir sehr eingängige Refrains haben, andere sagen, dass es insgesamt ein eingängiges Album ist aufgrund von bestimmten Passagen, aber die Refrains sind schwierig. Es ist alles eine Frage des Standpunktes und der Art, wie man das alles anhört. Ich habe festgestellt, dass es einfach auch einen Unterschied macht, ob man das nur auf MP3 hört, bei dem Songs von 60, 70 MB auf 10 MB komprimiert werden. Der Sound kann so kaum richtig beurteilt werden, und dies ist der Fall mit vielen Presseleuten, welche nur diese komprimierte Version zu hören bekamen. Diese Art von Musik benötigt die bestmögliche Qualität.
MI: Es hat unbestritten anders getönt im Ice Rink!
Hansi: Für mich war das zuerst kein so grosses Ding, aber dann haben die Leute darüber geredet und ich hab daraufhin die Files gecheckt, die waren wirklich komprimiert. Aber die Musik ist die Musik, die ändert nicht.
MI: Du hast die alten Fans erwähnt. Ihr habt vor etwa dreissig Jahren oder so als Speed Metal Band begonnen und ihr habt Euch in dieser Zeit entwickelt zu dem, was ihr heute seid. Das neue Album beinhaltet Bombast, Episches, Soundtrack-mässiges – Stichwort „The Ninth Wave“, es hat Speed oder beinahe Thrash, es hat Progressives… Wolltet ihr ein Album machen, bei dem Ihr ALLE Fans zufrieden stellt?
Hansi: (lacht) Kreativität ist etwas Natürliches. Man muss nur den Dingen ihren Lauf lassen. Über den Zeitraum von zweieinhalb Jahren haben wir uns verändert und dadurch haben sich auch die Songs verändert. Wir haben immer betont, dass wir uns beim Songwriting nicht wiederholen wollen. All die genannten Elemente sind eine Qualität von Blind Guardian, die wir uns über die letzten dreissig Jahre angeeignet haben. Und eigentlich wollen wir auch nichts davon verlieren. Das einzige, was jetzt vielleicht fehlt, ist der folkloristische Aspekt. Aber uns ist auch nie aufgefallen, dass da etwas fehlen könnte. Es ist nur so, wenn ich das Album jetzt höre merke ich: oh, da ist kein „Bard’s Song“, da ist kein „Past and future Secret“. Aber letztendlich denken wir nicht darüber nach, ob wir es jemandem anderem ausser uns selbst recht machen können. Das ist vielleicht etwas vom Falschesten, was einige Bands heutzutage machen: sie haben Angst, ihre Fans zu verlieren. Und das funktioniert nicht. Umgekehrt haben wir acht verschiedene Stile auf einem Album. Da ist das Risiko vorhanden, dass wir die Leute irritieren und nicht den Geschmack aller Fans treffen, dieses Risiko ist zweifellos höher.
MI: Zwischen den Releases Eurer Alben liegen grosse Zeitspannen. Einerseits habt Ihr sicher einen Status erreicht, wo ihr Euch sowas auch finanziell leisten könnt. Umgekehrt: ist das vielleicht das Geheimnis Eures Erfolges? Ihr seid neben Accept die wohl grösste Metal Band Deutschlands. Und Ihr könnt einfach so vier Jahre verstreichen lassen bis zu einem neuen Album, während andere neue Alben innerhalb 18 Monaten raushauen?
Hansi: Auch das ist wieder Ideologie und Philosophie. Ich sage nicht dass das eine oder andere besser ist, denn es kommt auf die Outputs der jeweiligen Bands an. Wenn eine Band fähig ist, ein Album zu machen, das ihnen gefällt, warum mit dem Release warten?
MI: Und in Eurem Fall dauert es einfach länger, bis ihr selbst zufrieden seid?
Hansi: Das ist unsere Art von Musik, die ist so reichhaltig. Und nebenbei war’s der Terminplan. Wir wollten das Album eigentlich etwas früher veröffentlichen, aber dann haben wir gleich zu Beginn viel Zeit verloren. Die Tour zur „At the Edge of Time“ dauerte länger als erwartet. Danach haben wir die Anfrage für ein „Best of“ Album erhalten. Und wenn wir sowas machen, dann wollen wir auch hier etwas Richtiges kreieren – also haben wir ein paar Songs neu aufgenommen, einfach um rauszufinden, wie das funktioniert. Dann kam die Anfrage zu „A Traveller’s Guide to Space and Time“ und das alles zusammen dauerte etwa zweieinhalb Jahre.
Bezogen auf das neue Album haben das Songwriting und die Produktion also gar nicht mal so lange gedauert, wenn man diese Musik mal anschaut. Wie gesagt, es kommt immer auf die Sichtweise an, aber ich persönlich denke schon, dass dies auch ein Teil des Erfolgsgeheimnisses ist. Denn man kann die Leute auch überfüttern. Und ich glaube, dass man sich selber nicht neu erfinden kann innerhalb vierzehn, sechzehn Monaten.
MI: Wenn wir von neuen Alben reden – Ihr seid immer noch mit dem Orchester Album beschäftigt? Wie ist da der Stand der Dinge?
Hansi: Da wir in Prag und Budapest waren, hatten wir die Gelegenheit, einige Aufnahmen zu machen. Es geht vorwärts, ich würde mal sagen, dass wir die Orchesterparts von etwa sieben Songs fertig haben. Insgesamt peilen wir etwa elf Songs an. Wir müssen also noch einiges aufnehmen, aber immerhin sind die Kompositionen gemacht. Ich werde dran sein mit den Vocals, das steht auf dem Kalender noch in diesem Jahr. Aber wenn ich die Schedule der Blind Guardian Tour anschaue, dann werde ich nicht allzu viel Zeit dafür haben (lacht). Ursprünglich war der Release für das Ende dieses Jahres angedacht, aber ich zweifle, dass das klappen wird (lacht).
MI: Als ich mir vor der Cruise mal wieder die alten BG Sachen reingezogen habe, ist mir ein cooles Album wieder einmal ins Bewusstsein gerückt: „Forgotten Tales“! Gibt’s mal ein „Forgotten Tales II“?
Hansi: Das war damals nur ein Füller. Eigentlich war’s nicht mal das! Wir hatten nur „Mr. Sandman“, und unsere alte Plattenfirma, Virgin, glaubte dermassen fest an diesen Song, dass sie ein ganzes Album forderten, welches sie promoten können. Damals haben sie aufwendige und teure Videoclips gedreht und sie wollten uns damit im Mainstream TV etablieren – was allerdings schief ging (lacht). Aber wir haben dieses Album gemacht. Wir hatten gerade mal zwei Monate für Aufnahme, Mastering und Mix, das war im Dezember 1995 / Januar 1996. Wir haben also das Album gemacht und ein paar Songs wurden wirklich grossartig. Es gibt auch durchaus Anfragen, ob wir sowas wieder einmal machen werden. Wenn es die Zeit erlaubt, werden wir es in Betracht ziehen. Aber in diesem Fall müssten alle Songs wirklich eigenständig sein. Damals haben wir fünf oder sechs Songs aufgenommen, die im Prinzip nur remasterd wurden, die waren auch fertig vor den „Forgotten Tales“ Sessions. Aber die anderen, an denen wir nur während dieser Periode gearbeitet haben – „To France“ zum Beispiel – die kamen extrem gut raus.
MI: Bald geht’s los mit der Europa Tour. Ein Besuch im Z7…
Hansi: (lacht) Wie gewöhnlich! Der einzige Stopp in der Schweiz…
MI: Was dürfen die Fans showmässig erwarten? Viele Bands haben ja in den letzten Jahren in diesen Bereichen massiv zurückgeschraubt. Es gibt kaum mehr Pyro- oder Lasershows, „nur noch“ Backdrop und etwas Licht – that’s it…
HK: Ich bin jetzt nicht so der Fan von Pyros – ausser du bist In Flames oder Rammstein. Die haben da die Messlatte sehr hoch angesetzt. Wenn wir sowas benutzen würden, dass müssten wir unseren Fokus auf die Pyros richten. Ich sehe Blind Guardian nicht als typische „Pyro-Band“.
Aber generell wird’s eine grosse Produktion, aber wir werden das auch auf die Grössen der Hallen ausrichten müssen. Das Z7 ist ein netter Ort für 1‘500, 1‘600 Leute – aber es ist nicht die grösste Halle auf der Tour. In Deutschland spielen wir teilweise vor 5‘000, 6‘000 Zuschauern. Da brauchen wir auch etwas, was wir anpassen können. Unser Hauptaugenmerk liegt eher im visuellen Bereich, das letzte Mal war’s mehr Licht und Atmosphäre, die Tour zuvor waren’s Projektionen… Dieses Mal wird’s auch wieder mit Atmosphären zu tun haben…. (zögert und überlegt) Ich würde sagen, es wird einen modernen Anstrich haben. Und es ist eine recht aufwendige Produktion. Sie kann fraglos mithalten mit jenen in 2010 und 2006. Dann aber müssen wir uns wieder bewusst sein, dass wir diese Show nicht nach Südamerika bringen können. In Nordamerika ist’s wieder anders, da haben wir zumindest einen Teil an Auftritten, bei dem wir Teile der europäischen Show zeigen können. Generell ist aber die Show schon in erster Linie für Europa aufgebaut. Da haben wir klar die meisten Fans.
MI: Ihr habt überall auf der Welt gespielt. Ihr habt gar euer eigenes Festival gehabt, vor zehn Jahren etwa…
Hansi: Zwölf! (grinst)
MI: Vergleich mal all dies mit dieser „70‘000 Tons of Metal“ Kreuzfahrt!
Hansi: Chaos! Das hier ist pures Chaos. Nun ja – ich freu mich darauf, wir haben das ja bereits vor vier Jahren gemacht, auf der ersten Cruise. Und das war auch schon Chaos. Wir haben das auch erwartet. Aber es ist der Event! Für uns war’s ein guter Start für die Tournee. Songmässig sind wir zwar noch auf die Phase 2010 ausgerichtet, aber es ist für uns eine Art Neubeginn. Wir freuen uns sehr, es ist ein tolles Happening, es ist ein grossartiges Gefühl. Und ich bin überzeugt, dass wir irgendwann wieder kommen!
MI: So, und jetzt will ich es wissen: warum habt ihr kein Merchandise dabei? Die Wahrheit!
Hansi: (lacht) Die Wahrheit ist, ich erachte es nicht als nötig. Der Fokus liegt vor allem bei den Festival Shirts. Wir haben das das letzte Mal gemacht… man weiss, wie viele Leute auf dem Schiff sind, man kann abschätzen, wie viele Leute bei den Shows sind. Man kann also rechnen, aber hier sahen wir keinen grossen Sinn dahinter. Die Leute sind hier wegen dem Event! Ja, wir hätten T-Shirts verkauft, wir hätten welche machen können – aber wir hätten so viele wieder nach Hause genommen, so dass wir uns dieses Mal dagegen entschieden haben.
MI: Letzte Frage: werdet ihr heute Abend neue Songs spielen?
Hansi: Nein. Kein Geheimnis. (grinst) Um ehrlich zu sein: wir haben bislang erst zwei Tage gehabt um das neue Material zu proben, und das wäre schlicht zu frisch heute. Für viele Bands bedeutet diese Kreuzfahrt eher das Ende der letzten Tour, während wir ganz am Anfang stehen. Alles ist noch frisch, also spielen wir die „Saftey Card“. Aber wir werden eine unterschiedliche Setlist zur ersten Show haben! Und ich glaube es wird eine grossartige Sache! (lacht)
Das ist es dann auch geworden – Blind Guardian spielten wenige Stunden später einen sensationellen Gig auf dem Pooldeck mit einer genialen Setlist und präsentierten sich als absolut würdiger Headliner der geilsten Kreuzfahrt der Welt…