Was für ein geiler Abend!
Hinter mir werden die Stimmen immer leiser. Es ist ein Uhr nachts, ich laufe Heim, allein.
Jetzt ist es ruhig, nein, es pfeift in meinen Ohren. Mein T-Shirt ist Schweissnass. Es fühlt sich auf der Haut so an, als ob ich damit seit längerem im kalten Regen stünde. Meine Hand verspürt immer noch den Druck von Terence Hobbs Handschlag. Ich dankte ihm für fünfundzwanzig Jahre musikalischen Spass und Leidenschaft.
Fangen wir aber dort an, wo man es tun sollte: am Anfang.
Das Wichtigste in Kürze
- Suffocation besuchte zum allerersten Mal Bellinzona und zwar im Rahmen der “Beyond The Dark Light-Tour”
- Hammercult hat ihr Termin mit der Stadt der drei Schlössern abgesagt
- Das Publikum bringt Kevin Muller etwas Lokalkolorit bei: Porco Dio goes America
DESPISING AGE
Ein Paradox? Diese tessinischen Musiker waren noch Kinder, als „Effigy Of The Forgotten” rauskam. Für sie ist es nicht nur aufregend für Suffocation zu eröffnen, sondern auch die Erfüllung eines Traums. Despising Age gibt es seit 2012 und widmet sich gekonnt dem floridianischen Todesmetall der alten Schule. Ihr Auftritt dürfte heimelig und intim werden. Das Quartett – mit Ausnahme von Schlagzeuger Alessandro der oben sitzt – wird vor der mit Gerät vollgestopften Bühne spielen müssen. Die Situation gefällt dem Publikum sehr, ärgert aber den Tontechniker, weil er keinen guten Sound erzielen kann. Die Jungs haben heute ein Heimspiel, darum hat sich die Kurve versammelt, um sie zu unterstützen. Sie haben bisher lediglich eine Demo und zwei EPs eingespielt, können aber viel Live-Erfahrung vorweisen, die sie auch ausserhalb der heimischen Grenzen gesammelt haben. Diese erlaubt es ihnen, sich selbstsicher zu präsentieren und die Situation souverän zu meistern.
Wenn schon vor “Final Heritage”, dem ersten Lied des Abends, die Stimmung gut war, wird sie in wenigen Minuten zum friendly violent fun. Die ersten schütteln den Kopf heftig zum Takt, strecken ihre Fäuste in die Höhe, oder jubeln der Band lauthals zu. Das spornt Despising Age an, jetzt geben die Jungs richtig Gas. Sie bewegen sich in den wenigen Quadratmetern, die ihnen zur Verfügung stehen, lachen, erlauben sich Spässe mit den Anwesenden und nehmen gelegentlich Posen ein, um sie zu unterhalten. Der Saal ist nun bestimmt bereit für den nächsten Brutalitätsgrad: der von Suffocation. Ein unveröffentlichtes Lied schliesst das gelungene Konzert ab und ist gleichzeitig den Vorgeschmack auf die kommende Platte.
Noch klingt die letzte Note aus und schon leert sich der Klub so schnell, wie er sich gefüllt hat. Klar, es ist sehr heiss und viele ziehen es vor, draussen etwas frische Luft zu schnappen.
SUFFOCATION
Flashback, 1992. Der Pit Club – damals noch Peter Pan – wird eröffnet. Diese war die erste Bar in Tessin, die wirklich den härteren Tönen gewidmet war. Die Juke-Box war immer gefüllt mit den neusten und geilsten CDs, die der Betreiber in den USA auftreiben konnte. Im selben Jahr erlebte ich zum ersten Mal Suffocation live. Ich weiss es noch, der Sound war so lala, aber hey, ich kannte “Effigy Of The Forgotten” auswendig und daher MUSSTE ich die Band sehen! In jenen Tagen hätte ich nicht einmal davon geträumt, sie heute im Klub anzutreffen, wo ich einige Jahre meiner Jugend durchfeierte. Noch weniger hätte ich gedacht, dass ihre Musiker trotz des Erfolges so bodenständig geblieben wären. Jetzt laufen sie zwischen den Anwesenden herum, so als ob sie reguläre Stammgäste oder Mitglieder einer lokalen Band wären.
Schnell und professionell bereiten sie ihre Instrumente vor und führen das Soundcheck aus. Charlie Errigos unsicherer Schritt – der Gitarrist wurde Opfer einer Rotweinflasche, respektiv ihres Inhalts – scheint seine Kollegen gleichzeitig Sorgen zu bereiten und zu amüsieren. Der Kleine Saal ist wieder rappenvoll und der Massaker beginnt. Suffocation zögern nicht, uns die Begriffe brutal und heavy zu erklären. Die Ansagen zwischen den Liedern sind kurz, aber die Worte des Dankes an Publikum und Organisator sind viele und warmherzig. Das Repertoire deckt die wichtigsten Etappen der Band-Geschichte ab. Neuheiten wie “Clarity Through Deprivation” werden mit der gleichen Begeisterung empfangen wie die Klassiker der “Effigy Of The Forgotten” Ära.
Zwischen uns und der Bühne herrscht nicht nur ein gewaltiger Energiefluss, sondern auch ein handfester aus vollen Bierbechern. Die Gäste offerieren sie den sichtlich unter der Bullenhitze leidenden Musikern. Diese spielen trotzdem tödlich präzise (die Flasche Rotwein, wisst ihr noch?). Die engen Platzverhältnisse halten uns nicht davon ab, die Einladung zum Circle Pit zu folgen, während in der ersten Reihe die kreisenden Mähnen Schweiss auf die Nachbarn und den längst triefenden Bandmitgliedern verteilen. Wir jubeln, als Kevin Muller, nun sicherer in der Aussprache, “Porco Diooooh” grölt. Wenn die Deutsche Sprache oft präziser ist, ist Italienisch viel blumiger, vor allem bei Kraftausdrücken. Nur so viel: “Porco Dio” heisst in etwa “Gottverdammt nochmal”. Wird Muller dieses Geschenk, diese Erinnerung der ersten Reihe in Bellinzona in Ehren halten? Das Konzert neigt sich dem Ende zu, “last song for tonight”. Wir antworten wie mit einer Stimme: “one more song!”. Suffocation kapitulieren vor so viel Begeisterung und spielen eins, zwei, drei Lieder – oder waren es sogar vier? – mehr. Diese Zugabe dürfte geschichtsträchtig sein. Alle, die Band und wir, sind nun erschöpft aber glücklich. Beide Seiten haben die familiäre und unkomplizierte Atmosphäre genossen, die nur ein kleiner Klub bieten kann.
Am nächsten Tag werde ich während eines Spaziergangs die Ereignisse nochmal Revue passieren lassen und mit Hühnerhaut auf den Vorderarmen zu mir sagen: “Was für ein geiler Abend!”
P.S.: Zur Hammercult-Geschichte… nun, ich habe vor dem Event mit mehreren Personen gesprochen. Keine vermisste sie.