Das Momentum auskosten
In Göteborg sind fraglos einige Meister des melodiösen Todesmetalls beheimatet. Zu dieser Kategorie dürfen sich Dark Tranquillity inzwischen auch schon seit beinahe drei Dekaden zählen. In Sachen Silberling liess man zuletzt 2016 mit dem überragenden «Atoma» aufhorchen (Review dazu kann hier nachgelesen werden). Nun folgt vier Jahre später der sehnlichst erwartete Nachfolger, welcher auf den Namen «Moment» hört. Lasst euch von diesen einsilbigen Titel keinesfalls täuschen, denn dahinter verbirgt sich bei den Schweden oftmals vielschichtiges und spannendes Material.
Die Kompositionen auf dem neusten Streich sollen verschiedene Pfade beleuchten, die ein Mensch im Verlaufe seines Lebens beschreitet und wie gewisse Entscheidungen die Richtung dieser Wege beeinflussen können. Das Cover-Artwork stammt abermals aus der Feder von Gründungsmitglied Niklas Sundin. Allerdings gehört der gute Mann nicht mehr zum aktiven Band-Gefüge. Sein Posten wurde mit dem zweiten Klampfer Johan Reinholdz besetzt, der von nun an gemeinsam mit Chris Amott für die Riff-Gewitter verantwortlich ist.
Century Media Records wird «Moment» am 20. November 2020 unters Volk bringen. Was eure Lauscher da alles erwarten dürfen, werde ich in der nachfolgenden Analyse versuchen sinngemäss zu beschreiben.
Das Album – «Moment»
Der Opening-Track «Phantom Days» enthält direkt sämtliche Zutaten, die man vom nordischen Sextett erwarten darf: Gefühlvolle Gitarren-Melodien, aggressive Growls von Fronter Mikael Stanne, Keyboard-Sequenzen, Tempo-Variationen und melancholische Augenblicke. Der Zuhörer wird umgehend in diese Klangwelten hineingesogen. Ein Einstieg nach Mass!
Auch beim darauffolgenden «Transient» wird weiterhin auf einem professionellen Niveau musiziert. Hymnen-Potenzial ist fraglos vorhanden. Mister Stanne predigt seine Phrasen unbeeindruckt in gehässiger Manier. Ganz grosses Kino ist dann aber zweifelsohne das ausgezeichnete Gitarrensolo im letzten Lied-Drittel. Ein erster Appetithappen des neu formierten Saitenhexer-Gespanns.
«Identical To None» startet rasant aus der Boxengasse und braust danach munter weiter. Felle-Klopfer Anders Jivarp peitscht seine Kollegen engagiert nach vorne. Bei dieser Geschwindigkeit lösen sich sämtliche verknoteten Haare und beginnen ungebremst herumzuwirbeln. In der Stimme des Sängers können anklagende Elemente entdeckt werden.
Mikael kann übrigens auch anders – und das beweist er in Form von klar gesungenen Passagen während «The Dark Unbroken». Eine willkommene Variation. Die Nummer drückt unter anderem wegen der Tasteninstrumente von Martin Brandström auf die nachdenklichere Schiene. Ausserdem gibt’s erneut grandiose Klampfen-Arbeit zu bestaunen.
Zumindest für Dark Tranquillity-Massstäbe kann der Song «Remain In The Unknown» durchaus als Ballade eingestuft werden. Ein weiteres Mal segeln die Schweden durch wehmütige, trübe Gewässer. Das Vertonen von traurigen Gedanken zählt seit eh und je zu den grossen Stärken dieser Truppe. Die «clean vocals» sind sensationell! In diesem Bereich hat sich der Frontmann definitiv nochmals um ein paar Level verbessert. Komplett ohne kehlige Laute kommt er jedoch nicht aus.
Mit dem Stillstand («Standstill») bleiben wir gleich in der gemächlichen Region. Die Wirkung des stimmlichen Kontrastprogramms sollte man sowieso niemals unterschätzen. Diese Phase des Innehaltens mag zwar ihre Daseinsberechtigung haben und für den Facettenreichtum der Künstler sprechen, aber ich würde mir nun langsam schon wieder ein paar fetzigere Tracks wünschen. Das darf allerdings keinesfalls als Einladung zum Überspringen von «Remain In The Unknown» oder «Standstill» verstanden werden.
«Ego Deception» bietet viel Keyboard-Erotik und diverse Temposchübe. Hinzu gesellt sich ein primär knurrender Mikael. Der Mix aus geradliniger «Haudrauf»-Mucke und sanfteren Abschnitten funktioniert. Headbanger und Denker kommen deshalb gleichermassen auf ihre Kosten. Diese Komposition weckt tatsächlich Erinnerungen an die Vorgängerscheibe «Atoma».
Bei «A Drawn Out Exit» hantieren die IKEA-Metaller mit verzerrten Effekten und driften teilweise in den orientalischen Sektor ab. Eindeutig eine der härteren Nummern auf «Moment». Die Mähnen schüttelnde Zunft dürfte das garantiert freuen. Dieser Kandidat darf in Setlists künftiger Live-Shows um keinen Preis fehlen.
Schwächen bleiben bisher in Tat und Wahrheit Mangelware. Der Sechser ist unglaublich souverän unterwegs und präsentiert sich in bestechender Verfassung. Auf «Eyes Of The World» wird dem Zuhörer ebenfalls das volle DT-Verwöhn-Paket serviert. Ein akustischer Genuss der ersten Güteklasse!
Der nächste Kracher hört auf den Namen «Failstate». Riffs, Growls und Trommel-Attacken greifen die Nackenmuskeln schonungslos an. Schade bloss, dass der Spass schon nach 03:23 Minuten wieder vorbei ist. Ich hätte gerne noch ein bisschen länger mitreissen lassen.
Taucht da etwa plötzlich eine fröhliche Melodie auf? Es macht beinahe den Anschein. Klar wird am Mikro nach wie vor einsatzfreudig gegrunzt, aber insgesamt entfernen sich die Nordmänner hier schon ein paar Meter von ihrem düsteren Habitat. Möglicherweise will genau deshalb der letzte Funke nie vollends herüberspringen. Trotzdem ist dieser Mut für Experimente anzuerkennen.
Danach ist Zeit für das Finale: «In Truth Divided». Wir bewegen uns hauptsächlich in der Mid-Tempo-Zone und Mikael brilliert ausschliesslich mit seinem Klargesang. Ein gefühlvoller Abschluss, bei welchem man ein letztes Mal in sich geht und die Melodien einfach wirken lässt.
Das Fanzit Dark Tranquillity – Moment
Das Genre Melodic Death Metal ist seit Ewigkeiten ein heiss umkämpftes Pflaster, doch mit «Moment» platzieren die Musiker von Dark Tranquillity ihre Allerwertesten – zumindest in diesem verkorksten Jahr 2020 – meines Erachtens definitiv auf dem Thron. Ein atemberaubendes Werk, welches nur so vor Hits und hervorragenden Hymnen strotzt! Die akustische Inszenierung der düsteren, nordischen Aura ist dem Göteborger-Sextett abermals sagenhaft gut gelungen. Enttäuschungen bleiben aus. Bleibt zu hoffen, dass die Anhängerschaft der Band das neue Material eines Tages (sprich in nicht allzu ferner Zukunft) im Live-Gewand erleben darf.
Empfehlenswerte Hörproben: «Phantom Days», «Remain In The Unknown», «A Drawn Out Exit», «Eyes Of The World»
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Tracklist Dark Tranquillity – «Moment»
- Phantom Days
- Transient
- Identical To None
- The Dark Unbroken
- Remain In The Unknown
- Standstill
- Ego Deception
- A Drawn Out Exit
- Eyes Of The World
- Failstate
- Empires Lost To Time
- In Truth Divided
Line Up – Dark Tranquillity
- Mikael Stanne – Gesang
- Martin Brandström – Keyboard/Synthesizer
- Chris Amott – Gitarre
- Johan Reinholdz – Gitarre
- Anders Iwers – Bass
- Anders Jivarp – Drums