Wenn die Welt im Wartemodus hängt….
Jen Majura dürfte den meisten als Gitarristin der US-amerikanischen Alternative Rocker Evanescence ein Begriff sein. Dass die Dame ein wahres Multitalent ist – und erst noch richtig gut singen kann, wie sie unlängst mit „Something On 11“ unter Beweis gestellt hat (siehe Review) – mag wohl etwas weniger geläufig sein.
Wir haben uns mit der sympathischen Vollblutmusikerin zehn Tage vor Weihnachten u.a. über ihre 1-Minute-Jammms, ihr mit Alen Brentini zusammen aufgezogenes Sideprojekt, die Schattenseiten der Popularität sowie über Kochrezepte unterhalten.
Metalinside (Sandro):Vielen Dank, Jen, dass du dir die Zeit für dieses Gespräch nimmst. Ich habe gerade vorhin noch die Pressekonferenz unseres Bundesamtes für Gesundheit mitverfolgt, und das Ganze klingt momentan auch nicht unbedingt sehr erbauend. Bei euch beginnt ja morgen nun der Lockdown.
Jen: Ja, ich muss deswegen auch meine Musikschule dicht machen. Es ist einfach… Ich weiss auch noch nicht, ob ich meine Eltern über Weihnachten besuchen werde – momentan ist einfach alles sehr schwierig. Ich weiss, dass wir gesund und meine Eltern verantwortungsbewusste Leute sind. Aber wenn jeder so denkt, ach ja, das sind nicht wir, das sind die anderen, dann bringt der ganze Lockdown über Weihnachten auch nicht wirklich viel. Zudem müsste ich durch fünf Bundesländer fahren, bis ich im Süden und bei ihnen bin – ich weiss wirklich nicht, ob ich’s machen soll oder nicht. Der Verstand sagt nein, es ist nur ein Weihnachten, und wenn man dadurch irgendwie mehr Gesundheit auf den Planeten Erde bringen und irgendwie die Situation verbessern kann, dann darf man auf Weihnachten auch mal verzichten.
MI: Man kann seine Eltern ja nicht nur zu Weihnachten sehen, es gibt ja noch 364 weitere Tage im Jahr.
Jen: (lacht) Sehe ich genauso. Der Lockdown respektive diese ganze Pandemie… Ich versuche mich momentan mental darauf vorzubereiten, ein Neujahrs-Post zu machen, in dem es nur darum gehen soll, was dieses Jahr auch an Gutem gebracht hat. Denn ich weiss jetzt schon, dass alle schreiben werden, wie furchtbar doch alles war, wie sich alle freuen, dass dieses Jahr nun endlich vorbei ist, Fuck 2020… Aber hey, ganz ehrlich, ich habe ein paar richtig tolle neue Freunde kennengelernt, superschöne, interessante Gespräche geführt, ich habe viel öfters gekocht und tolle Rezepte entdeckt… Es gibt wirklich Sachen, die gut waren, und ich denke, man hat auch wieder ein klein wenig gelernt, für die kleinen Dinge im Leben dankbar zu sein und sich darüber zu freuen. Speziell eben auch, gesund zu sein. Ich denke, das wird das Bewusstsein vieler verändern, speziell, wenn dieser ganze Nebel von „Ach, alles ist ja so schrecklich und Scheisse“ erst mal weg ist.
Ich telefoniere recht viel mit Jeff Loomis und Jeff Waters und Bumblefoot, und alle wünschen sich, sie könnten schwitzend von einem Gate zum nächsten hetzen, überteuerten, ekligen Flughafenfrass essen. Ich werde mich auf alle Fälle nie mehr darüber beklagen. Aber es ist halt schon so, sobald du in diesem Trott drin bist mit all dem Touren, dem Jetlag und Stress und so, dann ist das immer ganz super schlimm – aber jetzt sehnt man sich richtiggehend danach. Es ist, wie wenn du krank wirst und deine Gesundheit zuvor als selbstverständlich angesehen hast. Ich glaube, 2020 wird rückblickend ein Jahr sein, in dem viele Menschen wieder gemerkt haben, wofür man eigentlich dankbar sein muss, darf, kann…
MI: Wie sieht dein Zeitbudget aus, wie lange darf ich dich in Beschlag nehmen?
Jen: Mein Zeitbudget… tja, ich bin ja die ganze Zeit auf Tour, ich habe auch heute den ganzen Tag voll viele Konzerte und muss auch gleich wieder weiter… (lacht). Nein, das ist alles gut, ich muss nachher nur noch schnell zu Edeka einkaufen und das war’s. Ich hab Zeit. Ich schlage vor, wir setzten das Ganze mal auf eine halbe Stunde an…
MI: Und wenn ich dann fünf Minuten überziehe, reisst du mir auch nicht den Kopf ab..
Jen: Du kannst auch ne Stunde mit mir quatschen (lacht herzhaft). Alles gut.
MI: [lehnt sich entspannt und erleichtert zurück; geworden sind es dann übrigens 50 Minuten – typisch Schweizerischer Kompromiss eben…] Ok, dann beginnen wir doch mit einer einfachen Frage, die du mir sicher locker beantworten kannst: Wie spricht man deinen Namen korrekt aus?
Jen: Das wird ein Print-Interview, gell? Das heisst, du muss das dann auch noch phonetische Lautschrift schreiben (kringelt sich schier vor Lachen). Das ist grossartig. Also generell, ˈdʒɛn madʒˈura [„Tschen Matschura“]. Majura ist thailändisch und heisst „Pfau“ – auf Thailändisch wird es natürlich nicht „Matschura“ ausgesprochen, sondern majurˈa [Betonung auf dem a]. Aber für den Globus ist es wahrscheinlich einfacher, „Tschen Matschura“ zu sagen. Wobei mir die spanische Variante auch sehr gut gefällt: ˈxɛ̃n maxˈura [mit „ch“ – und behaftet mich bitte nicht auf der phonetischen Schreibweise *g*]
MI: Soll ich dich jetzt lieber „Tschen“ oder „Chen“ nennen?
Jen: Bleiben wir bei „Tschen“ (lacht).
MI: Passt (lacht). Ok, du hast vorhin erwähnt, dass dieses Jahr vieles nicht ganz so supertoll gelaufen ist – und dann kommst du mit deinen 1-Minute-Jammms an und bringst einfach mal so jede Menge gute Laune in die heimische Stube. Wie hast du das Ganze aufgegleist? Roger Waters hast du ja bereits erwähnt, ich gehe mal davon aus, dass du in der Szene sehr gut vernetzt bist. Aber mal eben einen Nicko McBrain von Iron Maiden nebst vielen weiteren Musikern von Whitesnake, Testament oder auch Dream Theater – dazu zu bewegen, sich mal eben zum Beispiel hinters Schlagzeug zu setzen und zusammen mit dir Online-Streams zu fabrizieren, stell ich mir dann doch nicht ganz so einfach vor.
Jen: (lacht) Zunächst einmal, es war ein Unfall. Ich habe mit meinem lieben Freund Kyle Hughes aus Newcastle, England telefoniert, und natürlich kamen wir auch auf die gängigen Themen Corona, Pandemie und Lockdown zu sprechen. Ich habe ihm dann vorgeschlagen, gemeinsam etwas Positives auf die Beine zu stellen. Er spielt Schlagzeug bei Bumblefoot und Marco Mendoza, und meine Idee war es, irgendein lustiges Cover zu machen. Das ging dann so hin und her: Er so: Ja ok, von was? – Ich: Nur so ne Minute. – Er: Ja ok, welcher Song? Hast du irgendwas im Kopf? – Ich: Ja, lass uns Jackson 5 machen. – Er: Nehmen wir noch Alen [Brentini] dazu. – Ich: Klar, lass uns zu Dritt sowas machen (lacht). Und der erste 1-Minute-Jammm hat dann dermassen eingeschlagen, alle waren so davon begeistert, dass ich mir dachte, wenn ich jetzt jeden Samstag um 19 Uhr während einer oder eineinhalb Minuten einen Coversong mit allen möglichen Freunden und Bekannten mache, dann haben die Leute einfach eine kurze Zeit lang keine Sorgen, sondern können sich an etwas erfreuen, haben gute Laune.
Ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe das nicht im Sinne von „Welchen grossen Namen kann ich sonst noch bekommen, damit das Ganze noch grösser wird“ gemacht. Denn all diese Jammer, von Richie Kotzen über Alex Skolnick (Testament), Mike Mangini (Dream Theater), Mike Terrana, Bumblefoot, Nicko McBrain (Iron Maiden), Joel Hoekstra (Whitesnake), alle, die mitgemacht haben, sind Freunde. Ich bin auch nicht auf irgendwelche Webseiten gegangen und habe irgendwelche Manager angeschrieben und gesagt habe, hey, ich hab hier nen Businessvorschlag. Ich habe den Leuten einfach eine SMS geschrieben. Ich meine, wir sitzen momentan sowieso alle zu Hause rum und nehmen auf. Und da die meisten ohnehin ein Kamera-Setup haben, konnte man das auch gut zwischendurch machen. Das Ganze ist für die Teilnehmenden nicht mit viel Aufwand verbunden, es ist einfach ein bisschen jammen und dabei Spass haben. Es geht nicht darum, dass wir virtuos bis zum geht-nicht-mehr auf unseren Instrumenten angeben, sondern wir wollen damit einfach Freude vermitteln – Spass an der Musik. Ganz wenige haben nein gesagt, die kann ich an einer Hand abzählen. Aber der Rest war sofort dabei.
MI: Das Ganze war ja auch ne wirklich tolle Sache – und etwas, das mir in dieser ganzen Misere enorm imponierte – eben wie sich die Musikszene zuerst mal geschüttelt hat und dann extrem kreativ geworden ist. Sei es mit Live-Stream Konzerten, Akustik-Sessions, wir durften sehr viele Wohnzimmer unserer Stars kennenlernen, was sonst wohl kaum vorkommen würde (Jen lacht). Was denkst du, wird zumindest ein Teil dieser aussergewöhnlichen Aktivitäten weiter bestehen, wenn die Krise erst einmal vorbei sein wird?
Jen: Das ist eine schwierige Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob man als Musiker in der Position ist, irgendwelche Zukunfts-Hiobsbotschaften zu erstellen. Ich weiss nicht, wie’s weiter geht, und ob später einmal das Ganze noch parallel online weiterlaufen wird. Für mich steht fest, dass ich die 1-Minute-Jammms nächstes Jahr sicher nochmals aufgreifen werde, einfach, weil es Spass macht. In welcher Form wird sich zeigen – vielleicht vereinzelt, vielleicht wird es auch einen Monat geben, in dem jedes Wochenende sowas stattfinden wird. Ob ich auf Live-Stream-Konzerte und Streaming-Events verzichten kann, wenn ich „the real deal“ bekomme: auf jeden Fall! Es ist einfach nicht das Gleiche. Wir haben es mit Evanescence bei unserem Live-Stream vom 5. Dezember ja auch gesehen… Es ist schön und toll, wenn man den Fans etwas geben kann, aber es ist einfach nicht Dasselbe. Wenn du in die Gesichter deiner Fans blickst, ihre Freude siehst, wie sie singen, schreien, weinen, lachen – diese Energie kann dir ein Screen auf einem Computer nicht geben. Und den Applaus, den man bekommt; es ist einfach nicht gleichzustellen mit kleinen bunten Herzchen oder einem Daumen hoch. Ich bin einfach Old-School, richtige Konzerte zu spielen ist einfach etwas völlig anderes.
MI: Das kann ich nur zu gut nachvollziehen, respektive habe es auch schon von einigen Künstlerinnen und Künstlern gehört. Eine Anna Murphy (Cellar Darling) zum Beispiel war extrem nervös bei ihrer Akustik-Session, da ihr einfach der Rückfluss der Emotionen, das direkte Feedback gefehlt hat (zum Interview). Bleibt zu hoffen, dass es bald aufwärts gehen wird. Stichwort „aufwärts gehen“: Gab es in diesem Jahr auch helle Momente, Lichtblicke in dieser recht trostlosen Zeit? Hast du zum Beispiel ein neues Hobby für dich entdeckt?
Jen: Zum einen habe ich angefangen, viel zu viel zu kochen und Freunde zum Essen einzuladen. Ich habe ein tolles Rezept entdeckt: Avocado gefüllt mit einem gekochten Ei, in Bacon eingewickelt und gebraten. Ich bin davon total begeistert. Darüber hinaus habe ich noch so einige weitere Rezepte ausprobiert und immer wieder auch eifrig meine Freunde dazu gebeten. Also Kochen ist definitiv etwas geworden, das mir in diesem Jahr sehr viel Freude bereitet hat. Des Weiteren habe ich zu malen angefangen, und ich habe mein Saxophon-Spiel etwas intensiviert. Und eines der zeitaufwändigsten Projekte, das ich dieses Jahr hatte, waren eben diese 1-Minute-Jammms, denn wenn’s auch nur eine Minute dreissig war pro Woche, so steckt für mich trotzdem ne Menge Arbeit dahinter. Aber ich bin dadurch auch beim Videoschneiden besser geworden (lacht).
MI: Also auch hier recht viel Kreativität, die in dein Leben eingeflossen ist?
Jen: Es geht. Um ehrlich zu sein muss ich lachen, wenn ich mit Leuten chatte, wie letzthin mit Gus G.. Wir haben Nachrichten hin und her geschickt, und ich habe ihn natürlich auch gefragt, wie es ihm gehe. Er meinte, sehr gut, er sei so inspiriert, total kreativ und voll am Arbeiten – und wie es bei mir sei? Mal ehrlich – ich bin total uninspiriert, habe dieses Jahr so wenig Gitarre gespielt wie noch nie, nehme ständig zu, bewege mich kaum mehr, ich bin faul geworden (lacht). Sagen wir, es ging mir schon mal besser. Er hat kurz überlegt und gemeint: „Ok, streich alles, was ich zuvor gesagt habe, mir geht es genauso. Ich sitze zu Hause mit meinen Katzen, esse zu viel Schokolade…“.
Es gibt viele, die momentan erzählen, wie schöpferisch sie gerade seien, wie unglaublich intensiv sie die Zeit nutzen würden – ich glaube davon jeweils gerade mal 20%. Und ich stehe auch dazu, dass ich – wenn ich das mal so sagen darf – die Schnauze voll habe allen zu erzählen, wie super toll doch alles ist, ganz einfach, weil es nicht stimmt. Ich bin da ehrlich und sage, wie es nun mal ist: Ich fühle mich nicht inspiriert, weil wenn dein Lebensinhalt fast nur noch aus Couch besteht, was soll ich denn schreiben? Couch-Blues vielleicht (lacht)? Es passiert nichts, die Welt hängt irgendwie in so einer Art Wartemodus – es gibt schlichtweg keinen Input. Wie sollst du da als Künstler kreativen Output kreieren? Immerhin hab ich jetzt Gott sei Dank einen Song geschrieben, der von Devin Townsend inspiriert war. Das hat mich total glücklich gemacht, da ich während dieses Jahres zuweilen wirklich gedacht habe, ich hätte es verlernt, ich könne gar nicht mehr schreiben, nix gehe mehr (lacht). Aber das ist zum Glück nicht passiert.
MI: Wenn ich dir so zuhöre, so frage ich mich, wann genau denn nun die Songs zu Something On 11 entstanden sind.
Jen: Die ganzen Songs sind im Frühjahr, Sommer, Spätsommer 2017 entstanden. Das war zu ner Zeit, als sowohl Alen als auch ich dachten, wir hätten 2018 mehr oder weniger das Jahr frei, weswegen die Planung auch entsprechend angesetzt war. Aber wie so oft kam irgendwie mal eben kurz das Leben dazwischen. Ich war praktisch pausenlos mit Evanescence unterwegs, und auch Alen hatte ne riesige Tour am Laufen. Es war schon unglaublich schwierig, überhaupt noch nen Studiotermin da rein zu quetschen, und danach war dann nur noch Tour, Tour, Tour.
Während der ganzen Pandemie habe ich mir dann gesagt, weisst du was, lass uns doch einfach jetzt ein bisschen positive Energie verbreiten, lass uns das jetzt raus bringen, auch wenn… Ich bin Old-School, ich steh auf physikalische CDs, ich möchte ein Album gerne in Händen halten können. Aber in der aktuellen Situation kam ich zu dem Schluss, dass es schwierig sein dürfte, viel Energie in das Ganze zu stecken, wenn wir es dann doch nicht physikalisch bewerben, nicht live spielen können. Deshalb haben wir uns dann für einen Digital-Release entschieden. Aber die ganze Stimmung des Albums ist auf jeden Fall durchhalten, kämpfen, positiv denken.
MI: Besteht eventuell zu einem späteren Zeitpunkt die Chance, dass Album vielleicht doch noch in einer physischen Form auf den Markt kommt, eventuell sogar auf Vinyl, worüber sich sicher so einige freuen würden?
Jen: Ich sag definitiv nicht nein, aber zurzeit ist es generell sehr schwierig, Prognosen zu erstellen, da einfach alles noch sehr ungewiss und wackelig ist – speziell was zeitliche Angaben oder Zukunftsperspektiven angeht. Ich sag nicht, dass es niemals physikalisch erscheinen wird, aber so wie’s jetzt momentan ist, würde ein physikalischer Release einfach keinen Sinn ergeben. Und Vinyl, ganz ehrlich, ich bin der grösste Fan von Vinyl, ich hab nen Schallplattenspieler hier zu Hause, und wenn ich mir ein neues Album kaufe, dann sicher auf Vinyl. Ich finde das einfach total super.
MI: Jen, bist du abergläubisch?
Jen: Huch… Hmm… Ich glaub nicht.
MI: Denk ich auch nicht, weil wenn man ein neues Album an einem Freitag, den 13. veröffentlicht…
Jen: (lacht laut) Ja, was kann denn noch gross Schlimmeres passieren in diesem Jahr, als es ohnehin schon war? Ich hab mir einfach gedacht, komm, wenn schon, dann muss es in diesem Jahr auch an einem Freitag den 13. sein. (lacht) Und es war derselbe Tag, an dem auch AC/DC ihre neue Scheibe veröffentlicht haben, also stehen wir mit dieser Meinung nicht alleine da (lacht).
MI: In meinem Album-Review habe ich auch die Frage aufgeworfen, was es denn mit dem Bandnamen „Something On 11“ auf sich haben könnte. Ich hege einen leisen Verdacht, basierend auf einem 1988 mit Yngwie J. Malmsteen geführten Interview, in dem er stolz anmerkte, bei seiner Gitarre liesse sich die Lautstärke bis 12 hochdrehen. Bin ich auf der richtigen Spur?
Jen: Fast. Es gibt einen Film namens „Spinal Tap“ – ein Klassiker, wenn es um Musikfilme geht. Es ist eine Dokumentation über eben diese Band „Spinal Tap“. Und der absolut lustigste Moment darin ist der, wenn ein Reporter mit dem Gitarristen spricht und dieser erzählt, wie stolz er doch sei, dass seine Amp auf 11 hoch geht statt nur auf 10. Weil, wenn 10 das lauteste ist, dann sei 11 eben noch ein bisschen lauter als laut. Der Reporter fragt daraufhin nach, wieso er denn nicht einfach normalerweise alles auf 9 spiele, dann sei 10 ja eins on top. Der Gitarrist guckt ihn an und sagt, aber bei ihm geht es bis 11 (lacht). Das ist so eine Art Running Gag unter uns Musikern – „Spinal Tap“ ist aber auch sonst ein grossartiger Film!
Wir wollten auf alle Fälle etwas mit „On 11“ machen und haben entsprechend gebrainstormt – „Rock On 11“, „Guitars On 11“, „Groove On 11“, „Music On 11“, „Loudness On 11“, „Volume On 11″… wir haben alles Mögliche ausprobiert, aber nichts davon hat wirklich gepasst. Ich sagte dann, etwas „On 11“ wäre wirklich cool, worauf mich Alen angeschaut hat und meinte, das ist es. So kamen wir auf „Something On 11“ (lacht).
MI: Coole Idee (lacht). Alen und du seid ja primär Gitarristen. Nun lehrte mich die Erfahrung, dass wenn zwei Saitengenies sich zusammentun, zwar ein tolles Gitarrenalbum dabei herauskommt, das eigentliche Songwriting dabei aber oftmals etwas auf der Strecke bleibt. Wie habt ihr es mit „Something On 11“ fertiggebracht, so coole Songs, so ein tolles Arrangement hin zu bekommen?
Jen: Dankeschön. Ich glaube, es gibt zwei verschiedene Typen von Musikern. Zum einen solche, die sich selbst profilieren und damit angeben wollen, dass sie besser sind als andere. Und auf der anderen Seite diejenigen, die für die Musik schreiben, für den Song. Viele hatten bei meinem zweiten Soloalbum „Inzenity“ ein Art Steve Vai – Gitarren-Virtuosen-Album erwartet – ist es aber nicht geworden. Ich persönlich finde es viel wichtiger, dass das Songwriting gut ist, anstatt einfach irgendwie schnell auf meinem Instrument zu spielen. Das ist ja nicht der Sinn der Musik. Für mich ist ein songdienlicher Gitarrist viel mehr wert als jemand, der einfach nur angeben will, weil er schnell spielen kann. Gibt mir einfach nichts. Bei Something On 11 haben wir es so gehalten, dass Alen prozentual etwas mehr an Gitarrenarbeit beigesteuert hat, von mir kamen dafür ein bisschen mehr Gesang und Lyrics. Wir haben aber komplett alles zusammen geschrieben und uns auch von Beginn weg darauf geeinigt, dass wir keine fixen Regeln haben wollen.
Wenn ich mir anschaue, was ich selbst so an Musik höre, von Abba, Fleetwood Mac, CCR, über Arch Enemy, Lamb Of God, Sugar, Freak Kitchen, Panzerballet, Zappa, Lady Gaga, Taylor Swift, Rihanna… Ich höre einfach alles. Und wenn ich mir dann überlege, was meine Bandbreite an Musik ist, die ich als Fan konsumiere, wieso sollte ich mich dann limitieren, wenn ich selbst Songs schreibe? Darum haben wir uns gesagt, wir machen alles, was uns Spass macht – sprich, wir haben Stücke, die rein instrumental daher kommen, solche, bei denen Alec singt, andere bei denen ich den Gesang übernehme und schliesslich solche, bei denen wir beide am Mikro zu hören sind. Unsere einzige Regel war es, den Mainstream-Regeln einen grossen Stinkefinger zu zeigen (lacht).
MI: Ich muss wirklich gestehen, dass ich, als ich mich dazu entschied, ein Album von zwei Gitarristen zu reviewen, doch so meine Bedenken hatte [Jen lacht laut], aber ihr habt mich recht schnell überzeugt – schlussendlich habe ich euer Werk wirklich toll gefunden. Was mich dann auch gleich zu meiner nächsten Frage führt: Wo hast du so gut singen gelernt. Wurde diese leicht reibeisenmässig klingende Stimme in früheren Jahren trainiert, geschult?
Jen: Erstens, Dankeschön fürs Kompliment. Dann… ich bin eine Sängerin, die zwar all die technischen Dinge umsetzen kann, wenn’s denn rein aufs Singen ankommt, aber ich bin sehr emotional, wenn’s um Gesangsaufnahmen geht. Das heisst konkret, ich würde stets eher meine Augen schliessen, den Text innerlich vor Augen haben, die Emotionen des Songs spüren und dann einfach singen. Und wenn dabei halt mal etwas Kratziges dabei herauskommt und ich am Ende des Tages heiser bin, dann ist das halt so. Der grosse Trick beim Singen ist meines Erachtens der, dass du nicht nur technisch an die Sache heran gehst – es ist eigentlich genau das Gleiche wie beim Gitarrenspielen. Wenn du dein Spiel nur über die Technik definierst, dann toucht es nicht, dann erreichst du die Leute damit nicht. Du musst die Emotionen spüren und deinen Körper – seinen es deine Hände beim Gitarrenspielen, sei es deine Stimme beim Singen – nutzen, um die Musik geschehen zu lassen. Wenn du es schaffst, diese Emotionen in Töne zu verarbeiten, dann erreichst du damit auch die Menschen. Das ist mein absolutes Non-Plus-Ultra, wenn ich singe.
Es kann gut sein, dass ich dabei viele Sachen falsch mache, weiss ich nicht (lacht). Aber… ich hab eigentlich schon immer gesungen; ich glaube, ich bin schon singend auf die Welt gekommen (lacht). Viele kennen mich halt nur als Gitarristin von Evanescence. Da ist es nun so, dass zum aller ersten Mal, seit die Band überhaupt existiert, live Backgroundgesang dabei sind – Amy meinte, wow, wir haben ein zweites Mädel in der Band, jetzt können wir auch live Backgroundvocals haben. Das ist etwas, das ich sehr, sehr zu schätzen gelernt habe. Gerade in der intensiven Phase, als wir mit „Synthesis“ – unserem Album mit Orchester – auf Tour waren, habe ich ganz viel mit Amy zusammen gesungen. Wir hatten keine Backing-Tracks im herkömmlichen Sinne, sondern es waren bloss zwei Menschen auf dieser Riesenbühne mit Orchester, die gesungen haben, und das waren Amy und ich. Das waren wunder-wunderschöne Momente. Und gerade bei den 1-Minute-Jams haben auch viele gefragt: Jen, du kannst singen (lacht)?
MI: Nebst Gitarre und Bass spielst du ja auch noch Ziehharmonika…
Jen: Moment, stopp, wouwouwouwou… das war ein reiner Witz. Mein Papa hat diese Ziehharmonika auf dem Sperrmüll gefunden. Er hat dieses Ding dann mit nach Hause genommen und als er damit ankam, dachte ich hoa, was ist das denn? Ich habe mich rund ne Stunde damit befasst, dann haben wir diesen Song [zum Video] gemacht (lacht). Also ich spiel das nicht professionell, um Gottes Willen, nein!
MI: Witzig war das Ganze auf alle Fälle. Zudem spielst du Saxophon, das hast du vorhin ja erwähnt, dann noch das Theremin – was ich grundsätzlich schon mal sehr, sehr spannend finde. Ich habe mir ein paar Lehrvideos dazu angeschaut, wie sowas bedient respektive gespielt wird. Jen, wie kommt man auf sowas?
Jen: (lacht) Als Amy uns das Prinzip von „Synthesis“ erklärt hat… Es ist so ein bisschen wie David Guetta meets Beethoven und beide gehen zusammen in die Oper. Also eher weniger wie Metallica das umgesetzt haben, grosse Rockband und ein bisschen Symphonieorchester dahinter… Wir haben diese digitalen Programs, Sounds und so, sitzen aber im Orchester, und anstatt Heavy Metal-Gitarren zu spielen, machen wir eben diese coolen, digitalen Sounds.
Als ich das hörte, wurde mir recht schnell bewusst, dass da nicht allzu viel Gitarre gespielt werden wird. Klar, ich wusste, dass ich singen würde, aber es brauchte noch etwas anderes, um mich kreativ ausleben zu können. Also habe ich Amy eine SMS geschrieben und ihr gesagt, dass ich mir überlege, ein Theremin zu kaufen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt das Instrument noch gar nicht, aber sie war von der Idee begeistert – also bleiben mir fünf, sechs Monate, um Theremin spielen zu lernen. Ich hab dann eine Stunde Unterricht genommen, um die verschiedenen Fingerpositionen zu üben und generell einen Einblick in die Handhabung dieses Instrumentes zu erhalten. Und dann hab ich geübt – wirklich geübt.
MI: Ist es schwierig zu spielen?
Jen: Es ist verdammt schwierig! Weil es zumal auch das einzige Instrument ist, welches man spielt, ohne physisch etwas anzufassen. Ok, es gibt noch Laser-Harfen, aber das war’s dann auch schon. Beim Theremin kontrollierst du die Antennen aus der Luft. Es ist ungefähr so, wie wenn du eine Geige ohne Bundstäbe spielst, nur spielst du sie in der Luft und fasst die Geige noch nicht mal an. Es ist unfassbar schwierig. Und ich bin auch keine super Theremine-Virtuosin, um Himmels Willen, nein. Übrigens, ab 18.12.2020 erscheint eine Single mit Cellogram, die ich mit zwei Freunden, Dave Eggar und Chuck Palmer, gemacht habe. Dave und Chuck waren als Opening-Act auf unserer Synthesis-Tour mit dabei. Dave hat mich angeschrieben und gefragt, ob ich Lust hätte, bei so ner Art Christmas-Special Gitarre und eben Theremin zu spielen [zur besagten Single „Shadow Of The Bells by Cellogram featuring Jen Majura„].
MI: Als ich das Ganze zum ersten Mal gesehen habe, war ich total hin und weg – es ist schon ein sehr spezielles Instrument…
Jen: Du hast zwei Antennen: die eine links kontrolliert die Lautstärk, da hast du so ein „huaaaaaaauaaauaaa“, und die rechte Hand steuert die Antenne für die Tonhöhe. Je näher du an die Antenne rankommst, umso höher wird der Ton. Und das Ganze wie erwähnt in der Luft, ohne physisch etwas anzufassen – es ist schon sehr speziell. Lustig war auch, als ich auf der Bühne nahe bei der Streicher-Sektion sass, da haben deren Bögen mein Theremin gespielt (lacht). Das war so mitten im Song, mitten während des Konzertes, da haben die irgendwie nen langen Ton gehalten, die Bögen kamen in die Nähe meines Instrumentes, und mein Theremin „huaaaaaaauaaauaaa“. Ich denke, wir haben in dieser Zeit alle sehr viel gelernt, als mein Guitar-tech zum Theremin-Check wurde (lacht).
MI: Gibt es noch andere Instrumente, die du spielst, nebst den bereits genannten…
Jen: Naja… ich würde sagen, dass ich mich noch ganz gut auf dem Piano zurechtfinde. Ich habe auch schon Flöte gespielt, Querflöte (überlegt), Schlagzeug, Bass… was noch? Bestimmt noch viele andere Sachen. Ich glaube einfach, dass es für dich als Musiker ziemlich hilfreich ist, wenn du zu möglichst vielen Instrumenten Zugang hast – es ist hilfreich, sie zu verstehen. Geige habe ich zum Beispiel auch mal gelernt. Wenn ich jetzt zum Beispiel einen Song schreibe und ein Klassik-Arrangement mit Streichern dabeihaben möchte, dann weiss ich, wie die Range dieser Instrumente ist. Gibt es dann ne Note, welche für Geigen zum Beispiel zu tief wäre, wüsste ich, dass ich das Arrangement für Bratschen oder die Viola umschreiben müsste. Es hilft dir einfach, wenn du da ein bisschen Bescheid weisst – und ich glaube auch, dass du so ziemlich jedem Instrument irgendwie eine Melodie entlocken kannst, wenn du dich musikalisch etwas auskennst. Die Frage ist dann einfach, wie die qualitative Umsetzung ist – „Alle meine Entchen“ kann ich auf beinahe jedem Instrument spielen (lacht).
MI: Gibt es ein Instrument, das du noch erlernen möchtest?
Jen: (überlegt lange) Ich glaube, meine ganz grosse Liebe ist definitiv die Gitarre, und das wird sich auch nicht mehr ändern. Ich würde gerne mal eine fretless [bundlose] Gitarre spielen, das möchte ich gerne mal ausprobieren. Aber sonst…
MI: Ein Hang vielleicht? Anna Murphy oder auch Clémentine Delauney haben das erwähnt.
Jen: Das ist wie so ne Klangschale, oder? Das habe ich mal an so einem lustigen Online-Event mit nem Bekannten von mir, nem YouTuber, gespielt. Das war in so einem Musikhaus. Er hatte an dem Tag Geburtstag, und die Idee war, dass er sich irgendwelche Instrumente aussucht, auf denen ich dann „Happy Birthday“ spielen muss. Das mit dem Kontrabass habe ich nach etwas Anlaufzeit irgendwie noch hinbekommen, aber als er mir ne Posaune in die Hand gedrückt hat, da war ich komplett verloren. Posaune ist ein Instrument, da bekomme ich keinen Ton heraus, da kam nur heisse Luft, es war furchtbar. Und dann kam er eben mit so Klangschalen um die Ecke. Die Teile sind aber oft so konzipiert, dass man nur gewisse Skalen, gewisse Töne darauf spielen kann. Wenn du Pech hast, kannst du „Alle meine Entchen“ oder eben „Happy Birthday“ auf sowas gar nicht hinbekommen. Das war ein bisschen gemein. Ich hab mich dann so beholfen, dass ich bei dem Ton, der gefehlt hat, einfach jeweils rein gesungen habe – hat geklappt (lacht).
MI: Nochmals zurück zu Something On 11: Ihr habt unlängst euer Debutwerk veröffentlicht. Besteht die Hoffnung, dass in Zukunft vielleicht noch mehr kommt, etwa ein paar Konzerte oder ein Folgealbum, wenn sich denn alles wieder einigermassen normalisiert haben sollte?
Jen: Das alles fällt gerade unter die Kategorie „Zukunftsprognosen“. Momentan ist einfach alles sehr unsicher – wir leben quasi von Tag zu Tag und können keine langfristigen Prognosen stellen. Wenn ich jetzt sage, klar, wir machen noch ein weiteres Album und es kommt dann nichts, dann heisst es, aber ihr habt doch…. Genauso ist es auch im umgekehrten Fall. Man kann’s momentan einfach nicht sagen.
MI: Wie ich gehört habe, steckst du momentan gerade in den finalen Vorbereitungen zum neuen Evanescence-Album. Wie weit seid ihr, was konkret bedeutet „in den letzten Vorbereitungen“?
Jen: In den letzten Vorbereitungen heisst inzwischen, unser Album ist fertig. Es kommt am 26. März 2021 raus; wir haben bisher vier Singles veröffentlicht, dazu drei Musikvideos gedreht, alle in Quarantäne und praktisch mit iPhones gedreht, sehr spannend [siehe Musikvideo zu „Wasted On You„]. Auch unser Fotoshooting war sehr interessant, sehr innovativ und kreativ. Ich denke, der Vibe, die Grundstimmung unseres neuen Werkes ist unglaublich stark, positiv und sehr ehrlich. Viele Songs zielen von der Message darauf ab, dass du ok bist und nicht perfekt sein musst. Dass es ok ist, wenn du jetzt einfach mal emotional müde oder traurig bist – du bist ein Mensch. Das ganze Album hat einen sehr ermutigenden Vibe. Und die Songs sind einfach unfassbar grossartig geworden. Ich freue mich riesig darauf, wenn die Welt endlich alle Lieder hören kann.
MI: Wir stark konntest du dich ins Songwriting mit einbringen?
Jen: Ich habe im Januar noch auf der NAMM-Show in LA gespielt und bin von dort aus direkt nach Nashville geflogen, wo wir ins Studio gegangen sind. Die ersten paar Writing-Sessions haben wir so noch zusammen gemacht. Nach zwei Wochen ist jeder von uns dann zum Flughafen gefahren, wir haben uns voneinander verabschiedet, „alles klar, bis nächsten Monat“ – tja, und das war’s dann (lacht). Amy und die Jungs konnten sich treffen, weil’s einfach machbar war, ich selbst kann noch nicht mal nach Amerika einreisen – das war schwierig für mich. Aus dem Grund war ich auch nicht in der Lage, mich in dem Masse ins Songwriting einzubringen, wie ich es gerne getan hätte. Aber wir haben alle eng mit unserem Produzenten Nick [Raskulinecz] zusammengearbeitet, der mir auch immer die neusten Files geschickt hat – eben alles digital.
Was ich bei den Aufnahmen zu Hause am meisten vermisst habe, war der Input von Amy, den Jungs und Nick. Früher habe ich immer hochgeguckt und Nick angeschaut, er dann „Ja, mach’s nochmal genau so, probier mal hier, probier mal dies“ – das fehlt dir halt, wenn du allein in deinen vier Wänden bist. Es ist eine völlig andere Art zu arbeiten, als wenn du im Studio bist. Ich musste für mich entscheiden, ob die Takes, die ich gemacht habe, nun gut genug sind oder nicht. Und ständig denkst du, das könntest du noch besser machen, also nochmals von vorne – das war eine echte Challenge. Und irgendwann kommst du dann einfach an einen Punkt, wo du dir sagst, so, jetzt schick ich’s aber ab, Mensch verdammt nochmals. Aber mit dem Endergebnis bin ich extrem zufrieden, das Album ist wirklich toll geworden.
MI: Da freu ich mich bereits jetzt darauf! Darf ich dir vielleicht ein paar persönliche Fragen stellen, wenn du noch Zeit hast.
Jen: Schatzi, ich hab alle Zeit der Welt (lacht). Corona lässt mich nur zu Hause auf der Couch sitzen.
MI: Du bist ja auch schon ein paar Jahre im Musikbusiness unterwegs. 20 Jahre dürfte in etwa hinhauen, denk ich mal.
Jen: Ich fühl mich eher wie 800 Jahre alt.
MI: Angenommen, du könntest 20 Jahre in der Zeit zurückreisen, welchen Ratschlag würdest du deinem jüngeren Ich geben?
Jen: Relax! Alles wird gut (lacht). Ich würde mir selbst einfach sagen, dass ich an viele Sachen viel entspannter heran gehen sollte. Klar, wenn man nicht kontinuierlich hart an sich arbeitet und versucht, besser zu werden, dann wird man scheitern. Das ist die Passion, die einen dazu bringt, einen übermenschlichen Ehrgeiz zu entwickeln. Aber ich habe mir oft völlig unnötig einen Kopf gemacht, einfach weil ich so passioniert und perfektionistisch veranlagt bin. Im Prinzip hätte ich alles… nein, nicht alles, aber viele Dinge lockerer sehen können. Das lässt sich sicher nicht verallgemeinern – es gibt viele Situationen, bei denen ich mir denke, ok, das hast du richtig gemacht, du hast es durchgepowert, du hast eine Woche lang am Stück gearbeitet, fast nicht geschlafen, nichts gegessen, 10 Kilo abgenommen – und ja, ok, ich würde es wieder so machen. Aber es gibt dennoch immer wieder so Momente, wo ich mir denke, meine Güte, was habe ich da fast nen Nervenzusammenbruch gekriegt, obwohl es gar nicht nötig war.
MI: Du gehörst ja auch zu den Personen, welche die Sozialen Medien wie YouTube recht intensiv nutzen. Gab es da auch schon Momente, die eher negativ behaftet waren, wo du dir gesagt hat, ok, das hätte jetzt nicht unbedingt sein müssen, zum Beispiel, als du 2015 anstelle von Terry Balsamo zu Evanescence gekommen bist?
Jen: Hmmmm, nein. Als Amy 2015 publik gemacht hat, dass ich Teil der Band sein darf, habe ich mir logischerweise schon Gedanken gemacht, schliesslich habe ich ein langjähriges Bandmitglied ersetzt. Aber im Nachhinein betrachtet war das alles unnötig, denn unsere Fans sind liebevolle, verrückte, tolle Menschen. Ich wurde wirklich mit offenen Armen willkommen geheissen, was sehr schön war.
Ich glaube, der einzige Moment in meinem Leben, an dem ich dachte, dass es an der Zeit ist zu realisieren, dass meine Stimme nun auch gehört wird, war, als ich eine Reaktion auf einen Vorfall mit Phil Anselmo gedreht und als Video veröffentlicht habe, in dem ich meine Meinung zu dem ganzen Thema kundtat. Nebst mir haben sich noch Robb Flynn, Sebastian Bach und Scott Ian dazu geäussert – das waren wir vier. Das besagte Video war damals eigentlich nur für meine Fans und Freunde gedacht, sicher nicht für Blabbermouth [Blabbermouth.net ist eine Website, die Nachrichten aus dem Bereich des Metal und Hard Rock sowie Alben- und DVD-Reviews liefert], so dass mich auf einmal 25’000 Pantera-Fans hassen und umbringen wollen. Die Zeit damals war wirklich hart. An den Tagen nach der Veröffentlichung erhielt ich zwischen 150 und 200 Death-Threads, und das über eine längere Zeit hinweg. Das ging dann soweit, dass wenn ich in einem Supermarkt einkaufen war und jemanden mit einem Pantera-Shirt gesehen habe, ich sofort losgerannt bin. Das war wirklich das erste Mal, dass mir bewusstwurde, dass meine Stimme respektive das was ich sage eine gewisse Bedeutung haben kann und ich entsprechend aufpassen muss.
Aber generell versuche ich eigentlich stets, meine Beiträge in den sozialen Medien sehr positiv zu halten. Polarisieren ist immer gut und interessant, aber ich weiss nicht so recht, ob das hier von Nutzen ist. Mir bedeutet es viel mehr, wenn ich weiss, dass Menschen glücklich sind, weil sie mal kurz ein Lächeln im Gesicht haben. Oder weil wir bei den 1-Minute-Jams immer ne halbe Stunde über Erdbeeren reden, oder über meinen Wellensittich Cookie – einfach mal ein bisschen sorgenfrei sein, weil die Welt, in der wir leben, ist unentwegt voll von Sorgen. Ich für meinen Teil möchte einfach – wie soll ich sagen – positive Vibes, ein bisschen Sorglosigkeit, Unbekümmertheit verteilen.
MI: Ein Sprichwort besagt, dass jeder Erfolg seinen Preis hat. Was war das Kostbarste, dass du für die Musik opfern musstest?
Jen: Mein Privatleben. [Stille]
MI: Im Sinne von, dass du eigentlich gar keines mehr hast?
Jen: Ja. Wenn du sowas machst, dann brauchst du einen gewissen Grad an Commitment zu diesem Lifestyle, zu der Liebe zum Reisen, zum Schreiben, zum Touren. Musik hat einfach die oberste Priorität in meinem Leben. Andere Leute setzen die Prioritäten anders, Haus, Hochzeit, Kind, Hund, Baum im Garten. Und meine Priorität ist Musik machen. Und da bleibt das Privatleben ordentlich auf der Strecke.
MI: Clémentine Delauney hat mal gesagt, dass wenn das, was du tust und nach dem du strebst, das ist, was du wirklich willst, dann sollten die Dinge, die du deswegen aufgeben musst, nicht als Opfer empfunden werden [zum Interview]. Siehst du das auch so?
Jen: Anders. Es geht darum, dass man für sich als individuelles Lebewesen Prioritäten setzen muss. Und du wählst das, was deine Seele glücklich macht. Das ist, denke ich, das Wichtige: Prioritäten setzen, statt einfach dem Trott nachzulaufen und zu sagen, ok wenn ich dies und jenes mache, dann bin ich wohl happy und glücklich. Weil, diese Entscheidung kann dir niemand abnehmen, das muss du ganz alleine mit dir ausmachen. Und was mich einfach wirklich glücklich macht, das ist die Musik in meinem Leben.
MI: Um noch einmal den Bogen zu Something On 11 zu schlagen: Der Song „Soul Suffer Payment“ handelt im Grunde genommen ja genau hiervon, dass man nicht rumjammert, wie schön das Leben doch sein könnte, sondern es selbst in die Hand nimmt.
Jen: Richtig. Sobald du das Gefühl hast, dass du deinen Job nur machst, damit du Geld dafür bekommst, dir es dabei aber fürchterlich geht, dann brauchst du etwas, das dich wieder aufmuntert. Eine Passion, ein Hobby, eine Liebe zu irgendetwas, damit du einen Ausgleich schaffen kannst. Viel zu viele Menschen sind viel zu materialistisch. Es wäre schön, wenn mehr Leute begreifen würden, was in ihrem Leben wirklich wichtig ist. Und das sind aus meiner Sicht nicht die teure Uhr oder das tolle Auto – das sind eigentlich alles materialistische, überflüssige Dinge. Mir war Geld noch nie wichtig.
„Soul Suffer Payment“ handelt vom Sinn her wirklich davon, dass viele Menschen täglich wie im Trott zur Arbeit gehen, um Kohle zu bekommen und überleben zu können. Alles grau. Und dass es sich lohnen würde, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen und einen positiven, begeisternden Ausgleich zu suchen.
MI: Letzte Frage: Hast du noch eine spezielle Message an deine Fans in der Schweiz, sei’s im Zusammenhang mit Evanescence oder Something On 11?
Jen: Ich freu mich sehr darauf, wieder in der Schweiz zu touren, weil ihr die beste Schokolade auf der ganzen Welt habt [lacht herzhaft]. Nein, ich freu mich einfach, wenn ich Menschen etwas Positivität mit auf den Weg geben kann. Und ja, ich freu mich auch auf die Schokolade, wenn wir das nächste Mal in der Schweiz spielen.
MI: Ganz herzlichen Dank, Jen! Ich wünsche dir einen möglichst stressfreien Einkauf – sowie natürlich besinnliche Festtage sowie einen ganz guten Rutsch ins 2021.