Jenseits der Big 4 des Thrash
Mittlerweile ist es ein offenes Geheimnis, dass neben den offiziellen Big 4 des Thrash – Metallica, Megadeth, Anthrax und Slayer – jeder seine inoffiziell persönliche Big-4-Liste in dieser Kategorie vertritt. Das kann man getrost so stehen lassen, genauso wie die Annahme, dass Flotsam and Jetsam ihre Aufmerksamkeit und ihren Erfolg dem Ausstieg von Jason Newsted verdanken, der nach dem tragischen Tod von Metallica-Basser Cliff Burton in dessen grosse Fusstapfen trat.
Tatsächlich wurden ihre beiden ersten Alben von Lobeshymnen geradezu überschüttet, während sie mit den Nachfolgealben genauso schnell wieder in Vergessenheit gerieten. Doch man vergisst dabei ein nicht unwesentliches Detail: die grosse Metal-Party war Anfang 90er für alle vorbei … zumindest vorerst.
Thrash Metal per se kehrte somit dorthin zurück, wo er ursprünglich herkam – in den Untergrund, durch die dreckigen Ecken des Hardcore Punk angekratzt. Auch Flotsam and Jetsam opferten ihren eingeschlagenen Pfad einer etwas experimentelleren Richtung, weshalb ihr Name bis heute selten mit den grossen Thrash-Bands in Verbindung gebracht wird. Eigentlich nicht erstaunlich, da ihr Stil nicht dem typischen Hauruck-Gedresche entspricht. Vielmehr ist es dem rauen Power Metal amerikanischer Prägung näher angesiedelt und kommt durch Eric A.K.s markanten Gesang auch deutlich melodischer rüber.
So überrumpelt «Doomsday For The Deceiver» 1986 ein Musikgenre auf ihrem Höhepunkt und gilt bis heute zurecht als eines der besten und bedeutendsten Metal-Debütalben überhaupt. Temporeich, direkt, inspiriert, technisch hochstehend und völlig unbeschwert zelebrieren Flotsam and Jetsam ihren originellen Thrash Metal und doppeln zwei Jahre später mit «No Place For Disgrace» faustdick nach. Und dies, obwohl Jason die Band bereits nach dem Debüt verlassen hatte. Keine Frage, die Messlatte wird dermassen hoch angesetzt, dass die Flots mit jedem darauffolgenden Album immer wieder an ihrem eigenen Niveau scheitern. Zwar keine schlechten, aber unter jenen sieben eben auch keine bemerkenswerten Alben. Und mit dem Re-Recording von «No Place For Disgrace 2014» tun sich die Herren auch keinen Gefallen, indem sie quasi ihr eigenes Schaffen verhunzen. Die Glorie der alten Tage scheint nur noch eine ferne Erinnerung zu sein.
Die Wende kommt dann zum 30-jährigen Jubiläum von «Doomsday For The Deceiver» mit dem gleichnamigen Album «Flotsam and Jetsam» (2016), wo man den Stil-Kompass wieder auf Kurs dreht und sich stilistisch verstärkt an den früheren Tagen orientiert. «The End Of Chaos» (2019) untermauert das dann eindrücklich mit einer geballten Ladung Energie, die unvermittelt an die beiden ersten Alben erinnert. Das Comeback ist damit perfekt, denn kaum eine andere Band schafft es, die beiden Subgenres Thrash und Power so zu vereinen, dass dadurch eine perfekte Synergie entsteht.
Das ultimative Zeugnis davon legt schliesslich die neuste Langrille «Blood In The Water» ab. Dabei wird nicht einfach krampfhaft versucht den grossartigen Vorgänger zu kopieren. Nein, er wird in allen Belangen sogar noch getoppt!
Das fängt bei der Produktion an, die noch mehr drückt als beim Vorgänger und somit noch die letzte störende Sterilität abschüttelt und jedes Instrument so klingen lässt, wie es für den eigenwilligen Stil von Flotsam and Jetsam Anno 2021 nicht besser sein könnte. Da reichen als Kostprobe die ersten 30 Sekunden vom Opener und gleichzeitigen Titeltrack, um sich gefühlt von einem herannahenden und vorbeikrachenden Güterzug überrollen zu lassen. Das Gitarrenduo Michael Gilbert / Steve Conley rattert, flitzt und heult in perfekter Balance aus gelöster Aggression und technischer Brillanz und Präzision, dass man am liebsten selbst zur Klampfe greifen möchte. Man höre sich diesbezüglich mal das schmissig galoppierende ‹A Place To Die› an.
Aber nicht nur die Stromgitarren wissen das Metallerherz zu erobern, denn was Knüppler Ken Mary (knackig-kräftig von Tieftöner Bill Bodily unterstützt) von seiner Schiessbude donnert, ist pures Adrenalin – da bleibt nichts, aber auch wirklich rein gar nichts banal oder 08/15. Nicht umsonst hat der gute Mann eine lange Referenzliste (u.a. Alice Cooper, House of Lords, Chastain, Fifth Angel, Impellitteri).
Zu guter Letzt bleibt noch Frontmann Eric ‘A.K.’ Knutson, der mit seiner variablen Stimme dem kantigen und thrashigen Sound den wiedererkennbar melodischen Stempel aufdrückt. ‹Burn The Sky› sei hier als typisches Beispiel genannt, wo das beherrschte und optimal eingesetzte Stimmrepertoire von harsch aggressiven bis hin zu klaren und hohen Gesangslinien reicht.
Das Album selbst kommt mit seinen 12 knackigen Songs gerade mal auf eine Spieldauer von 53 Minuten. Tatsächlich erreicht keiner davon die 5-Minutenmarke. Eröffnet wird «Blood In The Water» vom Titeltrack, gefolgt von ‹Burn The Sky›, ‹Brace For The Impact› und ‹A Place To Die› – vier makellose Kracher wie aus einem Guss. Da wird geholzt, was das Zeug hält, ehe man mit ‹The Walls› sogar gekonnt in Maidensche Gefilde ausfliegt. Abgeschlossen wird die erste Hälfte mit der Halbballade ‹Cry For The Dead›, was brüskierend wirkt und nicht wirklich ins Gesamtbild passen will.
Zum Glück wird mit ‹The Wicked Hour› der ursprünglich eingeschlagene Kurs wieder verlustlos aufgenommen und mit ‹Too Many Lives› (eine echte Dampfwalze), ‹Grey Dragon› (wer hier regungslos bleibt, ist echt verloren) und ‹Reaggression› (Dampfwalze Nr. 2) endgültig festgenagelt. Mit ‹Undone› geht man leicht proggy zu Werk, bevor das Album mit ‹Seven Seconds ‘Til The End Of The World› würdig abgeschlossen wird.
Das Fanzit Flotsam and Jetsam – Blood In The Water
Wenn man ein Werk wie «Doomsday For The Deceiver» als Debüt raushaut, ist das Risiko hoch, dass man womöglich das Pulver bereits verschossen hat, bevor die Karriere überhaupt begonnen hat. Zwar konnte der grossartige Nachfolger «No Place For Disgrace» diese Tatsache um ein Album verlängern, aber nie im Leben hätte man damit gerechnet, dass Flotsam and Jetsam jemals wieder nach den Sternen greifen würden. Nicht nach einer solchen Durststrecke von zehn eher atypischen Alben und einem Alterungsprozess von über 30 Jahren.
So gesehen kann man «Blood In The Water» als grosse Überraschung und echten Geniestreich bezeichnen. Ein Album, das man ohne Umschweife als beste Veröffentlichung seit ihrem Debüt bezeichnen kann und sich die volle Punktzahl wegen dem unpassenden ‹Cry For The Dead› nur um ein Haar verbaut.
Kurz gesagt: Wer auf direkten, rassig-energischen und dennoch gepflegten Metal der alten Schmiede steht oder sich einfach auf eine perfekte Kombi aus Thrash und Power Metal einlassen möchte, der sollte – nein, der muss! – hier unbedingt zuschlagen.
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Trackliste Flotsam And Jetsam – Blood In The Water
- Blood In The Water
- Burn The Sky
- Brace For Impact
- A Place To Die
- The Walls
- Cry For The Dead
- The Wicked Hour
- Too Many Lives
- Grey Dragon
- Reaggression
- Undone
- Seven Seconds ‘Til The End Of The World
Line Up Flotsam And Jetsam
- Eric ‘A.K.’ Knutson – Vocals
- Michael Gilbert – Guitars
- Steve Conley – Guitars
- Bill Bodily – Bass
- Ken Mary – Drums