Sind wir oder sind wir nicht alles wilde Kinder?
Diese Frage darf sich jeder selbst beantworten. Generell lassen Die Apokalyptischen Reiter auf ihrem zwölften Streich «Wilde Kinder» vieles zur Interpretation offen, jedoch dominiert das Thema Freiheit stark. Das Album erscheint am 22. April via Nuclear Blast.
«Wilde Kinder» kann als Nachfolger gleich zweier Alben gesehen werden: 2021 veröffentlichten die Weimarer das in nur zwei Tagen im Studio hinimprovisierte «The Divine Horsemen». Als ‘ein besonderes Geburtstagsgeschenk zum 25. Bandjubiläum’ wurde die Scheibe damals präsentiert (Review von mir). Dies war also der direkte Vorgänger von «Wilde Kinder», tanzt jedoch gegenüber den zehn älteren Alben etwas aus der Reihe. Wahrscheinlich deshalb wird «Wilde Kinder» auf der Reitermania-Homepage als ‘offizieller Nachfolger zu «Der Rote Reiter»’ (2017, Review von pam) angekündigt.
Doch genug der Vergangenheit; der Protagonist dieses Berichts ist schliesslich «Wilde Kinder». Wie schon bei «The Divine Horsemen» war mein erster Kontakt zum Album über die vorab veröffentlichten Singles, bevor ich das gesamte Album für eine Review zugespielt bekam. Während das im Dezember 2021 veröffentlichte «Volle Kraft» mich zu 200 % überzeugte, war ich im Januar 2022 nicht ganz sicher, was ich vom Titeltrack «Wilde Kinder» halten sollte. Obwohl, vom heutigen Standpunkt betrachtet ist auch das ein ganz starker Track! Vergangenen Monat dann «Euer Gott Ist Der Tod». Oh mein Gott, was für ein Knaller! Doch erst mal der Reihe nach: Es folgt eine mehr oder weniger detaillierte Analyse, unterbrochen von drei Intermezzi zu weiteren Reiter-Themen.
Des Albums erster Drittel
«Von Freiheit Will Ich Singen» ist, so verrät es schon der Titel, eine Ode an die Freiheit. Dieses Oberthema wird sich als roter Reiter, äh, Faden, durch das ganze Album ziehen. Und doch findet sich gerade auf dem Opener auch Kritik daran, dass eben nicht alle Freiheit für sich beanspruchen können. Für alle, die ihre Ketten noch spüren… Eine weitere Bedeutungsschicht legt sich in Form der Bridge hinzu, welche inhaltlich ein Gedicht des im KZ Oranienburg ermordeten Schriftstellers und Antimilitarists Erich Mühsam sein soll. Ohne ein Experte für deutsche Literatur zu sein, behaupte ich jedoch, dass die Zeilen noch älter sind, da sie bereits im 19. Jahrhundert in Hoffmann von Fallerslebens «Das Lied Der Freiheit» vorkommen. Musikalisch ist «Von Freiheit Will Ich Singen» ein ganz typischer ApoReiter-Song. Doch auch dies trifft auf jedes einzelne Stück zu. So viel Diversität, und doch so unverkennbar…
«Volle Kraft», die bereits erwähnte erste Singleauskopplung, beginnt mit einem äusserst charakteristischen Riff, einem starken Aufbau, zwei noch charakteristischen Synthi-Tönen… und dann setzt die Strophe ein. Diese referenziert gleich wieder deutsche Literaturgeschichte, indem sie sich stark von der ersten Strophe des Goethe-Gedichts «Auf Dem See» inspirieren lässt. In Sachen Eingängigkeit und Wiedererkennbarkeit hat «Volle Kraft» klar die Nase vorne. Das Riff, die Synthi-Klänge, der Refrain. Mit voller Kraft reiten die Horsemen weiter…
Das dritte Stück, «Alles Ist Gut», weckt bei mir starke Assoziationen Richtung «Rette Sich Wer Kann» der Berliner Spassband Knorkator. Ja, auch ‘die meiste Band der Welt’ behandelt gelegentlich ernste Themen. Die Kritik an der Gleichgültigkeit unserer Gesellschaft gegenüber gewissen Weltproblemen ist mehr oder weniger subtil, stimmt jedoch nachdenklich. Menschheit, du Sonderfall, Grösster im Ganzen All, Du Einzig Kreatur, Im Kampf Gegen Die Natur. Wie auch Knorkator bilden die Reiter mit dem lupfigen, fröhlichen Charakter einiger Passagen einen plakativen Kontrast zur Ernsthaftigkeit des Inhalts. Ein Meisterwerk, keine weiteren Kommentare…
Reiterwald
… doch an dieser Stelle ein passender Einschub! Die Apokalyptischen Reiter klagen nicht nur an, sondern werden auch tätig. Mit einer Kampagne mit dem malerischen Namen ‘Reiterwald’ setzt sich die Band für den Schutz von Primärwaldgebieten ein. Für einen Euro kann man einen Quadratmeter Wald in Kanada oder Peru schützen, indem die Umweltstiftung WILDERNESS INTERNATIONAL das Gebiet kauft und vor Abholzung schützt. Als Pate bekommt man ein Luftbild und Geokoordinaten. Das erste Ziel der Band ist übrigens, eine Fläche von 50000 Quadratmetern zu schützen – das ist die Fläche des Wacken Open Airs! Weitere Infos findet ihr auf der Homepage der Band.
Des Albums zweiter Drittel
Nun zurück zu den wilden Kindern. Ich habe bereits erwähnt, dass ich anfangs nicht genau wusste, was ich mit dem Titeltrack anfangen soll. Diese anfängliche Skepsis hat sich jedoch schnell verzogen, denn das Ding macht Laune! Der Titel reiht sich sowohl inhaltlich als auch musikalisch gut ins Album ein, respektive wurde zu Recht zum Namensgeber des Albums gewählt.
Mit «Leinen Los» wird es ein Stück ruhiger und auch langsamer. Je nach Definition könnte man das wohl ‘Powerballade’ nennen. Immerhin kommen auch Growls darin vor… Verarbeitet in der Seefahrt-Thematik – ja, die gehört einfach dazu – wird erneut der Drang zur Freiheit angespielt. Gemächlich und doch sehr eindrucksvoll eignet sich diese Hymne wohl sehr gut für einen ruhigeren Block in der zweiten Hälfte eines Live-Auftritts!
Auf dem Album bereitet die Ballade jedoch vor für die Schwere von «Euer Gott Ist Der Tod». Das längste und auch mit Abstand düsterste Ding auf «Wilde Kinder» kündigt sich mit Orgeltönen und dem kirchlich angehauchten mors et nox, in concordia invicta an. Es bleibt kaum Zeit, sich den Kopf über die unbesiegbare Eintracht von Tod und Nacht zu zerbrechen, schon setzt ein böses Melodeath-Gewitter ein. Starke Erinnerungen an ältere Songs sowie an die beiden Untergangsstücke «Der Rote Reiter» und «Hört Mich An» von 2017 breiten sich aus. Ähnlich wie bei ersterem gibt es auch ein herausstechendes Interludium, welches dieses Mal von Ex-Deadlock-Vokalistin Sabine Scherer beigesteuert wurde. Und zack, noch einmal das Instrumentalgewitter! Von mir aus dürfen die Reiter in Zukunft gerne einige weitere solche Stücke veröffentlichen. Ihr seid brennendes Feuer, euer Gott ist der Tod. Und im letzten Durchgang dann der Wechsel zu Wir sind brennendes Feuer, wir sind der Tod… Ich wiederhole: Bitte mehr davon! 😀
«Nur Frohen Mutes» bekommt den etwas schwierigen Platz gleich nach dieser überragenden mors et nox-Geschichte. Nichtsdestotrotz schlägt sich der Song ganz gut, wenn er auch nicht zu den Überfliegern des Albums gehört. Auch live würde ich dann bitte andere Sachen hören. Doch nochmals: Nörgeln kann man nur im Vergleich zum Rest des Albums!
Wo ist Walter, äh, Dr. Pest?
Ich nehme es vorweg, bevor ihr es weiter unten im Line Up lesen könnt. Vielleicht habt ihr es auch schon mitbekommen. Dr. Pest, der bisherige Keyboarder der Reiter, ist seit 2021 aufgrund ‘vielfältiger Gründe’ nicht mehr festes Mitglied der Band. Das heisst nicht, dass der Doktor nicht mehr mit den Reitern zusammenarbeiten wird. Im Gegenteil, auf «Wilde Kinder» ist er bei drei Songs als ‘Gast’ gelistet. Die weiteren Songs verteilen sich auf den Schlagzeuger Sir G. sowie auf Corvin Bahn (der unter anderem schon bei Beyond The Black, Blaze Bayley, Gamma Ray, Hansen & Friends, Lord Of The Lost, Nachtblut, Saxon und U.D.O. als Gastmusiker mitgewirkt hat). Wie die Keyboardfrage live gelöst wird, wird sich bestimmt noch zeigen.
Des Albums dritter Drittel
Schlussspurt! Auch wenn bei «Blau» von Spurt keine Rede ist, da es eine mysteriöse Gelassenheit ausstrahlt. Der Begriff ‘Trinklied’ wäre wohl ein wenig übertrieben, aber grundsätzlich geht das Stück in diese Richtung. Besungen wird die Zufriedenheit nach dem Konsum von «Ein Gläschen» oder auch mehreren, und dabei gelingt den Apokalyptischen Reitern ein weiterer Höhepunkt des Albums. Hier wird übrigens Chris Harms von Lord Of The Lost als Gast gelistet: Sein Ein Gläschen, der Herr? ist zwar kein riesiger, jedoch ein wichtiger Einsatz.
«Der Eisenhans» bringt wieder deutlich düsterere Passagen mit sich, und damit meine ich nicht nur die Growls aus Fuchs Kehle. Thematisch ist der Song angelehnt an das gleichnamige Märchen, in welchem ein Königssohn der Mutter einen Schlüssel klaut, um ‘den wilden Mann’ aus dem Käfig zu befreien (Stichwort Freiheit!) und mit ihm zu fliehen. Zugegeben, ich kannte das Märchen zuvor nicht, aber dessen Vertonung gefällt mir äusserst gut!
Es passiert nicht selten, dass in den Texten der Reiter die Konstruktionen ‘Ich bin…’ und ‘Wir sind…’ vorkommen. Auf «Ich Bin Ein Mensch» passiert das erneut, jedoch auf eine deutlich weniger kryptische Art und Weise. Das Intro erinnert stellenweise stark an eine elektronische Version von «Tiki»: Da könnte man doch gleich das ‘Ragaragatong tiga tong tiga tonga ga’ drüber laufen lassen, oder? In äusserst industrieller, fast schon Till-Lindemann-Manier betonen die Reiter unsere Nähe zum Tierreich und kritisieren gewisse gesellschaftliche Fortschritte. Der Kontrast zwischen Strophe und Refrain, die verzerrten Vocals in der Bridge, das wiederkehrende Rhythmus-Muster, musikalische Steigerungen… DAS ist ein Albumabschluss, danke!
The March For Freedom
Zuvor habe ich Live-Auftritte angesprochen. Wem diese nicht erwarten kann (und auch allen anderen) sei «The March For Freedom» empfohlen, die online streambare Albumrelease-Show. Diese wird vom 1. bis zum 8. Mai verfügbar sein und sowohl neue Songs als auch ‘unforgettable classics’ beinhalten. Weitere Infos gibt es bei live4you.
Das Fanzit – Die Apokalyptischen Reiter – Wilde Kinder
Die Apokalyptischen Reiter sind dafür bekannt, in ihren Songs eine grosse musikalische Diversität einzubauen. Trotzdem ist jeder einzelne Song den Reitern ganz klar zuzuordnen. Was auf diesem Album auffällt, ist die dezent gehaltene Abmischung von Keyboard und Schlagzeug. Keine Angst, beide sind gut hörbar, und mich würde es als erstes stören, wenn das Schlagzeug nicht seinen wohlverdienten Platz eingeräumt bekommen würde. Aber der subtile Fokus auf Gesang und Gitarre fällt doch auf!
Von «Von Freiheit Will Ich Singen» über «Wilde Kinder» und «Leinen Los» bis zu «Blau» und «Ich Bin Ein Mensch»: Thematisch können alle Songs – manche mehr, manche weniger – mit dem Oberthema ‘Freiheit’ in Verbindung gebracht werden.
Gewiss, gerade einige Songs auf «Der Rote Reiter» finde ich sehr schwierig zu übertrumpfen, doch finde ich «Wilde Kinder» insgesamt ausgeglichener. Da ist einfach kein einziger Song drauf, an dem es was auszusetzen gäbe! Persönlich mag ich «Euer Gott Ist Der Tod» und «Der Eisenhans» sehr gut, doch auch «Volle Kraft» und «Blau» empfehle ich sehr gerne als Anspieltipp. Oder noch besser: Gleich die ganzen 43 Minuten reinziehen!
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Trackliste Die Apokalyptischen Reiter – Wilde Kinder
- Von Freiheit Will Ich Singen
- Volle Kraft
- Alles Ist Gut
- Wilde Kinder
- Leinen Los
- Euer Gott Ist Der Tod
- Nur Frohen Mutes
- Blau
- Der Eisenhans
- Ich Bin Ein Mensch
Line Up – Die Apokalyptischen Reiter
- Fuchs – Lyrics, Vocals, Gitarre
- Ady – Gitarre, Keyboard
- Volk-Man – Bass
- Sir G. – Schlagzeug, Programming, Keyboard
Gäste
- Dr. Pest – Keyboard (Studio session guest: Wilde Kinder, Der Eisenhans, Alles Ist Gut)
- Chris Harms – Spoken words (Studio session guest: Blau)
- Sabine Scherer – Vocals (Studio session guest: Euer Gott Ist Der Tod)
- Corvin Bahn – Keyboard (Studio session guest: Von Freiheit Will Ich Singen, Euer Gott Ist Der Tod, Blau)