Das Wort zum Sonntag
Anfangs ganz erfrischend, im Sinne von, (endlich) mal was anderes, mutierte der Hit «Abcdefu» zum neuen «Despacito», ein Song, der alleine durch ständige Wiederholung unhörbar geworden ist und an die Musikfolter aus Guantanamo erinnert. Nun hat die Interpretin Gayle ihre erste EP veröffentlicht.
Der Senkrechtstart
Rock ‘n’ Roll ist tot. Begraben unter einer Schicht aus DJs, RnB und HipHop. Die Jugend entdeckt neue Musik über TikTok und verfolgt ihre Lieblingskünstler über Instagram. Doch plötzlich tönt ein lautes «Fuck you» aus den Radioboxen im Supermarkt. Taylor Gayle Rutherfurd, besser bekannt nur als Gayle, landete aus dem Nichts mit «Abcdefu» ein Nummer 1 Hit. Es wäre jetzt nicht das erste Mal, dass ein Song einer Künstlerin – ohne dass die breite Masse bisher etwas von ihr gehört hat – innert kurzer Zeit an Popularität gewinnt, doch selten ist es der erste Release überhaupt.
Ähnlich, doch nicht annähernd in dieser Geschwindigkeit schoss der Song «Bad Guy» von Billie Eilish hierzulande in die Charts. Zuvor konnte Sie allerdings bereits grössere Erfolge mit ihrer EP «Don’t Smile At Me» und diversen Singles, hauptsächlich in den Staaten verzeichnen und hatte, durch den Beitrag von «Ocean Eys» als Soundtrack zur Netflix Serie «13 Reasons Why», einen ordentlichen Bekanntheits-Push.
Gayle hingegen wurde vermutlich von gewieften Marketing-Experten von Warner Music an die Spitze katapultiert. Die Promotion an heutige Ansprüche angepasst: Während der Fan die Musik auf Spotify hört, kann er persönliche Bilder der Künstlerin auf Instagram liken und ihre intimsten Momente auf TikTok miterleben. Nahbarer ein Star nicht sein kann. Doch die Gefahr, dass nach dem Fame der Fall genauso schnell kommt ist hoch, denn sonderlich viel Wiedererkennungswert bietet ihr derzeitiger Sound nicht, doch dazu später mehr.
Wie der Rock in den Pop zurückkehrt
2019 standen hierzulande wieder Teenager auf den Strassen, demonstrierten für das Klima, forderten Veränderungen, nachdem sie in den letzten 20 Jahren angepasster waren denn je. Unter dieser bequemen Angepasstheit litt auch die Musik. Die letzte musikalische Revolution war vermutlich der Techno. Raven anstelle erwachsen, angepasst werden. Die Musik, die die Jugend heute hört, ist seicht, so dass sie von allen gehört werden kann. Einzig der Gangsta-Rap macht hier eine Ausnahme: Mit dem Einsatz von Fluchwörtern erzeugt er, immerhin, eine Pseudo-Auflehnung, die allerdings nicht als Revolution verstanden werden kann; höchstens das Ego des begeisterten Hörers steigert.
Doch nun war ein gesellschaftlicher Wandel im Gange, dass es nicht mehr peinlich ist, Umstände zu bemängeln. Die Jugend wollte nicht mehr angepasst sein; zentrale, gesellschaftliche Themen rückten wieder in den Vordergrund. Der Wunsch nach einer lebenswerten Zukunft überwand den gesellschaftlichen Leistungsdruck, der lange kritiklos hingenommen wurde, man sich stattdessen mit persönlichen Themen wie der daraus resultierenden Depression befasste.
So fehlte ein zeitgenössischer Soundtrack. Aus den Boomboxen, der Friday for Future Demonstranten, dröhnten Songs wie «Deine Schuld» von den «Die Ärzte», ein Rock-Song aus den 90ern. Die Musikindustrie hatte sich der bisher verstummten, ich-bezogenen Jugend angepasst. Der Pop war düster, melancholisch; behandelte Themen wie Verlust, Suizid, sprach aber nicht mehr von Veränderung. Der durch die parallel dazu aufkommenden Sozialen Netzwerke boomende Personenkult, verdrängte zunehmend Bands. Die Charts dominieren Einzelpersonen.
2021 gewann den weltweit grössten Musik-Wettbewerb, den Eurovision Song-Contest, die Glam-Rock Band «Måneskin»; mit dem Song «Zitti E Buoni», der davon handelt, dass es grossartig sei anders zu sein. Dass man aufstehen soll, sich gegen Regeln und Erwartungen auflehnen soll. Die Jugend liebte die Band und ihre Musik, zelebriert sie auf ihren Kanälen wie TikTok und Instagram. Sie trug so dazu bei, dass die Band auch nach der ersten Erfolgswelle vielen noch ein Begriff ist.
Nach dem der Rock lange als altmodische Nebenerscheinung galt, gehört bloss von einigen Aussenseitern, ist er nun zurück. Die «woke» Generation erkennt, dass harte Gitarren nicht auf konservative, ungepflegte Machos mit langen Haaren verweisen, sondern als geniales Stilmittel dienen können, um auf (gesellschaftliche) Missstände aufmerksam zu machen, Dinge anzuprangern.
Gayle nutzt dieses offene Tor und tritt als die neue Avril Lavigne in Erscheinung, springt damit gleichzeitig auch auf den Retro-Zug auf, der gerade am Bahnhof der Popularität hält. Es sind zum Beispiel auch gerade wieder Hosen mit Schlag in Mode, wie mir meine kleine Schwester berichtet. Auch Gayle trägt Geschmacksverstimmungen der 90er und setzt sich dicke schwarze Eyeliner zum Markenzeichen (siehe erneut: Avril Lavigne). Leider verzichtet sie, anders als der Wegbereiter Måneskin, auf Gesellschaftskritik und singt, wie so viele andere zeitgenössische Popstars, von angeblichen persönlichen Problemen wie Ex-Lovern, die sich ficken sollen oder dass sie in ein komplexes Netz aus Freundschaften und Sex gespannt ist.
Belanglose Musik
Insgesamt 12 Songwriter arbeiteten an der EP mit sechs Tracks mit. Zu viele Köche verdarben hier nicht den Brei, sie machten ihn langweilig, fade. Nach jeweils 30 bis 40 Sekunden setzt der Refrain ein; einzige Ausnahme bildet hier das bereits genannte «Abcdefu», das gleich mit ihm startet. Alles kein Zufall, eher perfekt auf kurze Aufmerksamkeitsspannen und Streamingplattformen angepasst, die ein Musikstück nach 30 Sekunden Hörzeit, als «gehört» betrachten, entsprechend den Künstler erst dann entlohnen. Rund drei Minuten lang ist ein Track, eine gute Länge um in Playlists hineinzupassen, ein weiterer wichtiger Faktor, um im heutigen Musikbusiness Erfolg zu haben.
Um den Hörer, der gerade noch Ed Sheeren streamte, nicht zu sehr zu schockieren, stammen die Drums aus der Konserve, teilweise ist immerhin die Gitarre «echt», ansonsten wurde sich auch für die anderen Sounds weitgehendst an Samples bedient. Gayles Stimme ist stark, kann sich auf den Songs aber nicht sonderlich austoben. Klanglich lässt sich das ganze am ehesten als «Singer-Songwriter-Rock» beschreiben, um als «Alternative» durchzugehen, ist es zu sehr an heutige Hörgewohnheiten angepasst, was bedeutet, dass Schlagzeug und Bass als tragende Elemente, besonders in den Chorussen, ziemlich alles andere ausser den Gesang überschatten. Das liegt nicht etwa daran, dass der Mixer seine Arbeit in einer Stunde erledigt haben musste, wir sprechen hier von einer Produktion auf der alleine, wie erwähnt 12 Songwriter (!), von Produzenten und Instrumentalisten will ich gar nicht erst anfangen, mitgewirkt haben. Der Mix richtet sich einzig und allein gerade populären Hörgewohnheiten: Der Siegeszug des rhythmischen Hip-Hops in den Pop darf hier vermutlich dafür verantwortlich gemacht werden.
Schnell wird mir beim Hören langweilig. Die Tracks bestehen hauptsächlich aus Bridge und Refrain. 30 Sekunden gehört und man kennt den jeweiligen Song. Überraschungen gibt es keine. Das Featuring mit Bue DeTiger und UPSAHL (ich kannte die vorher auch nicht) bringt keine neuen Klänge mit und würde nicht auffallen, auch da sich die Stimmen nicht sonderlich von der Gayles unterscheiden, wäre es nicht extra erwähnt. Auf Albumlänge wäre es wohl kaum zu ertragen.
Und trotz allem ist klar zu hören, dass «A Study Of The Human Experience» Rock-(geprägte)Musik ist.
Ein Schritt in die wichtige Richtung
Nun darf sich der verehrte Leser fragen, was eine Review zu diesem Stück Musik-Marketing auf einer Seite wie Metalinside.ch verloren hat. Zu erwarten, Jugendliche beginnen ohne damit je in Kontakt gekommen zu sein, von einem Tag auf dem anderen Heavy-Metal zu hören, ist utopisch. Viele der Metalheads der Generation Z, den Millennials, sind über Rock-Gruppen wie Nirvana, Weezer, Green Day, Linkin Park oder gar über den Hip-Hop der 90er, von dem zum Beispiel auch Einflüsse in der Musik von Slipknot zu finden sind, auf härtere Musik gestossen.
Ein grosser Unterschied zu heute ist allerdings der Umstand, dass dazumal durch Radio, Bravo und MTV Rock allgegenwärtig war. Mittlerweile ist Rock, besonders von neuen Künstlern mit denen sich heutige Teenager identifizieren können, im Radio beziehungsweise auf TikTok, was für die Verbreitung von Musik deutlich einen höheren Stellenwert angenommen hat, eine Seltenheit geworden.
Deshalb ist es wichtig, dass es Künstlerinnen wie Gayle gibt, die dieses Genre am Leben erhalten, ihm neues, junges Leben einhauchen und vielleicht für die Kids auch ein Zugang zu härterem Rock sind. Denn auch wenn es so scheint als würde sich die Jugend nicht mehr für «harte Musik» interessieren, so ist es trotzdem eine Tatsache, dass auf Hip-Hop Konzerten Pogo getanzt wird und Techno-DJs Flammenwerfer auf der Bühne platzieren.
Und nicht zu vergessen: der Rock, der sich durch seinen Mix mit anderen Genres zurück in die Hörgewohnheiten des Pops schleicht. So zum Beispiel beim Rapper Post Malone, der mit «Circles» wochenlang die Charts dominierte und mit dem Gottvater des Heavy-Metals Ozzy Osbourne zwei Songs aufnahm («Take What You Want» und «It’s A Raid»). Sein Album «Hollywood Bleeding» bestückte er da und dort mit E-Gitarre und schockierte an seinem Livestream-Auftritt bei «Bud Light Seltzer Sessions New Year’s Eve 2021» seine Fans mit Covern von «Rooster» (Alice in Chains) und «War Pigs» (Black Sabbath).
Das Fanzit Gayle – A Study Of The Human Experience Volume One
Auch wenn ich «A Studie Of The Human Experience Volume One» niemandem empfehlen kann, empfinde ich es doch als wichtiges Stück Musik. Denn es sind nicht zwingend die Künstler, der komplexen, guten Musik, die unsere Rock-/Metal-Szene aufrechterhalten. Es sind diejenigen, wie Gayle, die sie der breiten Masse zugänglich machen, die für den «Nachwuchs» sorgen.
Es liegt aber auch an uns, denen die sich bereits der Szene zugehörig fühlen, den Neuzuzügern unser Metier schmackhaft zu machen, schmackhaft zu halten. So sollen wir doch ENDLICH mal von dieser mühseligen Grundsatzdiskussion wegkommen, was «echter» Metal sei. 26 Subgenres plus weiter Unterkategorien werden im Wikipedia-Artikel «Metal-Genres» gelistet und trotzdem höre und lese ich immer wieder davon, wie Black-Metaller alles ausserhalb ihres Kosmos nicht akzeptieren, Metalcore «Kapitalismus-Scheisse» sei und Nu-Metal eigentlich nur 80s Pop mit verzerrten Gitarren ist.
Daher mein Appel: Wir müssen nach aussen aber auch innerhalb der Szene offener werden, denn nur so wird es Metal auch noch in fünfzig Jahren geben.
Das war mein Wort zum Sonntag.