Loyalität hat keinen Preis
Kaufi: Es ist über 20 Jahre her, seit Tobias Sammet mit „The Metal Opera, Pt. 1“ ein Meisterwerk veröffentlicht hat, welches auch heute noch die Messlatte aller „Metal-Opern“ ist. Und es dauerte nochmals Jahre, bis das Studioprojekt Avantasia doch auch auf die Bühne gebracht werden konnte.
2008 war es dann soweit, Avantasia traten erstmals live in Erscheinung, damals auf dem Rocksound Festival in Huttwil. Mit dabei waren da bereits Jorn Lande und Bob Catley, auch der mittlerweile verstorbene Brasilianer Andre Matos gehörte da zum Line-Up.
Was als einmalige Geschichte angedacht war, hat sich zu einer wahren Erfolgsstory gewandelt. 2010 spielten Avantasia das erste Mal im Z7 – und zwar gleich eine Doppelshow. Dies sollte sich im Laufe der Jahre mehrmals wiederholen, Ausnahme blieb das Konzert im Juni 2017, welches eine von drei Sommershows war. Neben Wacken und Barcelona, wohlgemerkt!
Mit immer neuen Alben (auch das war ursprünglich nie so geplant gewesen) spielte die All-Star Truppe in immer grösseren Venues. Nicht so in der Schweiz. Statt an einem Abend 5‘000 Leute in der Samsung Hall, macht man lieber gleich drei Gigs im Z7. Dem sagt man Loyalität. Den Seitensprung ans Riverside lassen wir mal ausser Acht – seit 2010 haben Avantasia 10 von 11 Konzerten im Z7 absolviert! Und nun folgt also die erste Open Air Show in der Nordwestschweiz im Rahmen der Z7 Summer Nights.
Warum geht man eigentlich an Konzerte von Avantasia? Vieles ist doch eh immer gleich, drei Viertel der Setlist sind identisch, viele der Mitmusiker sind identisch – und doch ist es immer wieder anders, aufregend und absolut unterhaltsam. Also auf nach Pratteln!
Sandro: Naja, für jemanden wie mich, der noch nie in den Genuss gekommen ist, das All-Star-Projekt des deutschen Metal-Sängers, Komponisten und Produzenten Tobias Sammet live erleben zu dürfen, ist solch eine Gelegenheit natürlich Gold wert. Denn auch wenn mein Herz seit der ersten Scheibe für Avantasia schlägt, und ich in der Folge das bunte Treiben dieser Truppe über die Jahre hinweg mit Freude beobachtet habe, so ist doch erst heute meine metallisch-opereske Feuertaufe.
Zwar köchelt die Schweiz seit nem ganzen Weilchen unter einer veritablen Hitzeglocke vor sich hin, doch bewegen sich die Temperaturen an diesem sonnigen Abend in durchaus angenehmen Regionen. Für das leibliche Wohl sind diverse Verpflegungsstände am oberen Rande des Geländes besorgt, für das gesellige Fachsimpeln stehen Festgarnituren bereit. Und wem der Sinn nach bekleidenden Erinnerungen steht, wird in der Halle des Z7 fündig. Wobei… leider nur teilweise, sind bei allen sechs zur Auswahl stehenden Shirts doch viele Grössen bereits vergriffen. So begebe ich mich denn unverrichteter Dinge ins nun dicht an dicht stehende Publikum. Sei’s drum, man weiss sich ja zu behelfen (siehe weiter unten).
Kaufi: Neu ist zum Beispiel das Intro. War dies früher immer klassisch, ist es heute „You Shook Me All Night Long“ von AC/DC. Sorgt schon für erste Gesänge im Publikum… Als dann Drummer Felix Bohne Platz nimmt hinter seinen Arbeitsgeräten, bricht Jubel aus, nach und nach tauchen die anderen Musiker auf und Avantasia starten wie zu früheren Zeiten wieder einmal mit „Twisted Mind“ in das Abendprogramm.
Und schon geht’s komplett zu den Anfängen: „Reach Out For The Light“, dem Opener der ersten Metal Oper. Selbstverständlich kommt jetzt auch bereits der erste Gastsänger zum Zuge. Hier ist es ein Neuling: Ralf Scheepers. Das macht insofern Sinn, da die Primal Fear Sirene auf dem kommenden Album zu hören sein wird. Überhaupt: Wenn man so überlegt, macht diese Show heute kaum Sinn, denn normalerweise haben Avantasia bei den Konzerten immer eine neue Scheibe im Gepäck. Tobi erklärt jedoch, dass das Ding längstens draussen sein müsste – kommt jetzt halt doch erst im Herbst. Jä nu, dann warten wir halt.
Sandro: Und wenn man die beiden bereits vorab veröffentlichten Songs „The Wicked Rule The Night“ und „The Moonflower Society“ als Referenz nimmt, so könnte „A Paranormal Evening With The Moonflower Society“ ein ganz heisses Eisen werden. Öhm, sollte es die Plattenfirma denn schaffen, den nicht ganz so kurzen Titel seitlich auf die Hülle zu pressen. Und auch im Plattenladen eures Vertrauens dürfte die Bestellung beim einen oder anderen für einen Knopf in der Zunge sorgen. Daher auch Tobis Tipp des Abends: „Fragt einfach nach der neuen Avantasia“. Macht das Leben doch gleich viel einfacher!
Zudem bittet der aus Fulda stammende Entertainer an diesem Abend mehrfach darum, doch auch zur physischen Version des Werkes zu greifen – einen Wunsch, dem ich tags darauf gerne durch die Vorbestellung des kommenden Opus nachkomme. Und mir – mangels der nicht vorrätigen Shirt-Grösse am Merch-Stand – auch gleich noch das passende Leibchen mit in den virtuellen Einkaufskorb packe.
Doch zurück zu Show, welche wie von Kaufi so treffend beschrieben bereits von Beginn weg voll nach vorne losgeht. Klar, mit „Reach Out For The Light“ ist es auch alles andere als ein Ding der Unmöglichkeit, die anwesenden Fans auf seine Seite zu ziehen. Und die Idee, keine Regeln für den heutigen Abend aufzustellen, ausser, dass «Pratteln» = «Krach machen» heisst, sorgt natürlich ebenfalls für wiederkehrende Feierlaune. Allenthalben fröhliche, strahlende Gesichter. Es wird aus voller Kehle mitgesungen, gejubelt, mit den Händen hin und her gewunken. Ein wahres Volksfest, welches hier an den Z7 Summer Nights durchs Gelände wabert.
Kaufi: Schauen wir uns doch mal die Gäste an, die Tobi heute auf der Bühne begleiten und unterstützen. Neben dem musikalischen langjährigen Stammpersonal (Oli Hartmann und Sascha Paeth an den Gitarren, Miro Rodenberg an den Tasten, André Neygenfind am Tieftöner und Felix Bohnke hinter der Schiessbude) sind heute wiederum Bob Catley und Jorn Lande mit dabei, auch Eric Martin darf nicht fehlen. Dafür verpasst Ronnie Atkins leider krankheitshalber diesen Auftritt. Dazu später mehr. Als „Background“-Gesangstrio fungieren Herbie Langhans, Ina Morgan und Adrienne Cowan.
Doch zuerst steht nach wie vor Ralf Scheepers im Rampenlicht, denn es folgt die erste Single des kommenden Albums, auf „The Wicked Rule The Night“ leiht er nämlich seine Stimme. Derweil hat das Tier an den Drums wohl bereits ein halbes Kilo weggeschwitzt – und wir sind erst beim dritten Song…
Für die nächsten zwei Tracks bittet Tobi Mr. Big-Sänger Eric Martin auf die Bühne, auch die Background Truppe kommt nun erstmals an die Mikrofone. „Dying For An Angel“ ist mittlerweile auch kaum mehr aus dem Programm wegzudenken.
Zwischen den Tracks quatscht sich Tobi immer mal wieder fast den Mund fusslig. Aber immer auf äusserst unterhaltsame Weise! Jemand im Publikum ruft ihm offenbar zu, dass er ZU viel redet. Tobi ganz cool: „Ich labbere zu viel? Das hat mir auch noch nie jemand gesagt!“ Im Quatschen macht aber der nächste Gast dem Master fast Konkurrenz: Jorn Lande! Der Norweger ist ebenfalls einer, der gerne mal ausführlich irgendwas erzählt.
Dass er aber singen kann, beweist er bei seinem Doppelpack. Das über 10-minütige „The Scarecrow“ entwickelt sich (wenig überraschend) zu einem grossen Highlight. Und der sanfte Beginn von „Lucifer“ sorgt für Hühnerhaut. Bockstark!
Sandro: Ja, Tobis Intermezzi. Im Vorfeld habe ich mich gefragt, wieso auf den Konzertplakaten keine Vorband aufgeführt ist. Spätestens nach der zweiten – wie soll ich es nennen? Ansage? Rede? – wird mir klar, dass ein weiterer Act den zeitlichen Rahmen wohl gesprengt hätte. Ich kann mir denken, dass die vielen wortreichen Unterbrechungen nicht jedermanns Sache sind, wirken sie doch wie quasselige Wellenbrecher zwischen den einzelnen Liedern. Sich kurz zu fassen ist wohl generell einfach nicht so sein Ding.
Auf der anderen Seite muss man Herrn Sammet aber zugutehalten, dass all die abgefeuerten Worthülsen stets witzig und äusserst unterhaltsam daherkommen. Und die Stimmung trotz des vielen Geredes gut, sowie die Pace hochzuhalten, muss man auch erst einmal schaffen.
Erkenntnis des Abends: Eine Avantasia-Show ist nicht einfach ein Konzert, sondern ein fetter Happen bester Abendunterhaltung. Wie früher zu meiner Jugendzeit „Wetten, dass…“. Nur rockiger!
Kaufi: Eigentlich wäre nun Zeit für Ronnie Atkins. Doch wie gesagt ist er aus gesundheitlichen Gründen heute leider nicht dabei. Seinen Part übernimmt nun Herbie Langhans. Zwei Tage zuvor haben Avantasia „Draconian Love“ aufgrund fehlender Proben offenbar in den Sand gesetzt. Heute jedoch klappt es wunderbar und bildet das nächste ganz grosse Highlight. Tobi ist zudem von Herbie eh schwer begeistert: „Du kannst mal Sänger bei Avantasia werden!“
Sandro: Ja, sehr schade, dass der Pretty Maids-Fronter wegen Corona – Tobias merkt aber auch gleich an, dass er „allright“ sei – in Pratteln nicht am Start sein kann. Herbies Auftritt hier in der Nordwestschweiz wirkt auf alle Fälle bestechend, und somit wohl ziemlich anders als kurz zuvor noch in Fulda. An der Zusammenstellung der Songs gibt es ohnehin nichts auszusetzen, alle Alben sind am heutigen Abend vertreten (wobei „Ghostlights“, „The Scarecrow“ und „The Metal Opera“ leicht herausstechen). Vermisse ich etwas? Allenfalls «Moonglow», aber das ist dann definitiv personifiziertes Mäkeln auch höchstem Niveau! Unterm Strich bleibt eine nahezu perfekt ausbalancierte Setlist.
Kaufi: Fehlt noch einer: Magnum Frontmann Bob Catley. Der darf „sein“ „The Story Ain’t Over“ (mit Unterstützung von Ina Morgan) zum Besten geben, bevor dann mit dem Titeltrack der neuen Scheibe nochmals bislang (fast) Unbekanntes präsentiert wird. Auch hier wird der Brite selbstredend auf dem Album zu hören sein.
So, die Gästeliste wäre eigentlich abgearbeitet, Zeit für eine geballte Ladung „Best Of“! Und diesen Part startet mit dem grossartigen namensgebenden „Avantasia“. Zum nächsten Song meint Tobi, dass sie den geklaut haben. Damals. Von Céline Dion. Aber egal, es hat sich finanziell gelohnt. Zusammen mit der sagenhaften Adrienne Cowan folgt „Farewell“. Eine unfassbar geniale Hymne, die richtig, aber wirklich richtig unter die Haut geht! Grossartig!
Sandro: Allein schon die Tatsache, dass man sich solch brillante Stimmen quasi „nur“ als Backgroundchor gönnen kann, sagt so einiges über die Qualität dieser hier auf der Bühne versammelten Truppe aus! Wahnsinn! Und ebenfalls ein Punkt, welcher Avantasia-Auftritte zu etwas ganz Besonderem werden lassen: Das manchenorts gerne leicht überstrapazierte Schlagwort „All-Star“ trifft in diesem Falle den Nagel auf den Kopf, die diversen stimmlichen Klangfarben sorgen zudem für jede Menge Abwechslung.
Und ja, bei „Farewell“, welches im Original von einer meiner Lieblingssängerinnen – Sharon Den Adel – intoniert wird, sticht die Performance der US-amerikanischen Frontlady von Seven Spires in der Tat heraus! Hühnerhaut pur!
Kaufi: Erst mal wieder runterkommen von diesem Trip. Und da hauen einem die Jungs grad einen Viertelstünder um die Ohren! „Let The Storm Descend Upon You“ sorgt für Stimmung. Und die allgemeine Spielfreude sorgt sogar dafür, dass Bassist André, sonst eher bekannt für einen Aktionsradius eines Bierdeckels, einen Ausflug zum fünf Meter entfernten Drumkit macht.
„Promised Land“ wird im Duett von Eric Martin und Jorn Lande gesungen, es soll der einzige Song sein, bei dem Sammet selbst nicht dabei ist. So gesehen immer wieder erstaunlich, welche Leistung der erklärte Bayern-Fan immer wieder bringt! Wenn man andere Sänger sieht, die kaum 90 Minuten durchhalten… Klar, Tobi hat die Unterstützung seiner Gäste, trotzdem ist es beeindruckend, was er da zeigt.
Sandro: Absolut! Und natürlich verschafft er sich mit den eingeschobenen narrativen Breaks auch immer mal wieder etwas Luft. Aber es ist wirklich beeindruckend, mit wie viel Energie, Engagement und Spielfreude die gesamte Band an diesem Abend drauflos powert! Und das Publikum Mal für Mal mit einbezieht, sei es während wie auch zwischen den Songs! Denn auch in den Rängen scheint keine Müdigkeit einkehren zu wollen. Nach über zweieinhalb Stunden Spielzeit ist das Volk hier in Pratteln noch immer voll bei der Sache, feiert mit was das Zeug hält. Fürwahr ein gutes Beispiel dafür, was oftmals als Austausch von Energie zwischen den Leuten auf wie vor der Bühne benannt wird.
Kaufi: Bei „Shelter From The Rain“ darf neben Bob Catley auch Ralf Scheepers nochmals in Aktion treten, und „Mystery Of A Blood Red Rose“ läutet bereits langsam, aber sicher das Ende der Show ein. Tobi meint dazu: „Schlechte Nachricht: Es folgt der letzte Song. Gute Nachricht: Es ist ein Avantasia Song!“ (Sandro: Tobi ergänzt mit einem Grinsen im Gesicht: „Und er ist nicht scheisse…“)
Ganz zu Ende ist es allerdings noch nicht, das allseits bekannte Finish steht an. „Lost In Space“ wie gewohnt als erste Zugabe, danach gibt’s „Heaven And Hell“ von Black Sabbath. Ähm – Moment… Wie war das grad? Nee, bleiben wir bei Avantasia: Bei „Sign Of The Cross“ folgt die gewohnt ausführliche und wie immer äusserst unterhaltsame Bandvorstellung, bei der Tobi unter anderem Neygenfind an seinem Bass in die Bühnenmitte „zerrt“. Mit dem Refrain von „The Seven Angels“ (warum spielt man den nicht endlich mal in voller Länge…?? ) verabschieden sich sämtliche Sänger und Musiker nach 2 Stunden und 40 Minuten von einem restlos begeisterten Publikum.
Das Fanzit – Avantasia – Z7 Pratteln 2022
Nur 2 Stunden und 40 Minuten? Nur 19 Songs? Zweifellos das seit langer Zeit kürzeste Avantasia Konzert, welches ich gesehen habe! Doch das wäre dann grad alles, was mir an „Kritik“ einfällt. Denn die All-Star Truppe überzeugt in diesen gut zweieinhalb Stunden einfach von A bis Z. Perfekt eingespielt, ohne irgendwelchen showmässigen Firlefanz, keine Pyros, keine Konfetti – einfach nur pure Musik. Und wer solche Songs in seinem Repertoire hat, braucht auch nix anderes! Frei nach Aerosmith: „Let The Music Do The Talking“. Und genau darum geht man immer wieder an Avantasia Konzerte…
Sandro: Boah, hätte mir jemand im Vorfeld gesagt, dass 160 Minuten sich so fluffig kurz anfühlen können, ich hätte wohl nur milde gelächelt. Aber als mein Blick am Ende des Konzertes zum Chronometer schweift, muss ich spontan an die Zeichentrickserie „Der Rosarote Panter“ denken: Wer hat an der Uhr gedreht? Und wie von Kaufi so treffend beschrieben: Das alles ganz ohne Firlefanz! Diese Band braucht keine gen Himmel schiessenden Feuersäulen, um ein Stück Glückseligkeit auf die Gesichter der anwesenden Zuschauerinnen und Zuschauer zu zaubern. Keine riesigen Videoleinwände, keinen theatralisch fallenden Vorhang zu Beginn, keinen Schnickschnack – lediglich Rock pur, und gut ist! Von daher war der heutige Abend eine prima Einführung in die in vielerlei Hinsicht fulminante Welt von Avantasia. Und umso mehr freue ich mich bereits jetzt auf die hoffentlich bald wieder ins Z7 führende „A Paranormal Evening With The Moonflower Society“ – Tournee.
Setliste Avantasia – Z7
- Twisted Mind
- Reach Out For The Light
- The Wicked Rule The Night
- What’s Left Of Me
- Dying For An Angel
- The Scarecrow
- Lucifer
- Invoke The Machine
- Draconian Love
- The Story Ain’t Over
- The Moonflower Society
- Avantasia
- Farewell
- Let The Storm Descend Upon You
- Promised Land
- Shelter From The Rain
- Mystery Of A Blood Red Rose
- Lost In Space*
- Sign Of The Cross / The Seven Angels*
*Zugaben
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