Der Chuck Norris der Bands
Die Ärzte aus Berlin beehren uns dieses Jahr nach längerer Abstinenz fast doppelt in der Schweiz, nachdem auch die zwei Hallenstadion Shows nach der ersten Verschiebung in den Dezember 2021 schliesslich ganz dem Corona-Virus geopfert wurden. Sie spielen im 2022 einmal im Juni in Thun und heute in Konstanz – was ja schon fast als halbes Schweizer Konzert gelten kann 😉.
Die Ärzte – wo warst du?
Im Juni war ich am Hellfest (siehe Review) und konnte die Superdrei in Thun leider nicht live erleben. Da war für mich sofort klar, ich muss nach Konstanz. Denn viel zu lange ist es her, seit ich die Ärzte live gesehen habe. Notabene die Band, die ich bisher am meisten überhaupt live gesehen habe, mehr als Metallica. Also müssten es mindestens über 25 Mal sein. Doch in den letzten 20 Jahren hab ich wohl öfters Farin Urlaub mit seinem Racing Team als ihn mit seiner Hauptband erlebt. In den 10er Jahren waren die die Ärzte nicht wirklich gross aktiv.
Nun, bekanntlich hatten die Ärzte nach der letzten grossen Tournee voneinander die Schnauze ziemlich voll und so war man nah dran, die Band wieder mal aufzulösen. Mehrere Jahre ging dann praktisch gar nichts mehr, bis ausgerechnet während Corona neue Lebenszeichen von ihnen zu sehen und zu hören waren. Angefangen hatte es ja noch vor Corona mit einem für DÄ typischen Song und dem verfänglichen Titel «Abschied», indem man einmal mehr die Gefühle der Fans in die Speichen eines fahrenden Velos hält. Textmässig könnte es anfangs auch nicht klarer sein: «Manchmal ist einfach Zeit zu gehen …» (siehe Video – leider hat es dieser eigentlich sehr geile Song nicht auf die neuen Scheiben «Hell» und «Dunkel» geschafft).
Das war 2019. Im gleichen Jahr gab es auch live wieder mal eine erstes Lebenszeichen am OpenAir St. Gallen (siehe Review). Da konnte ich leider nicht teilnehmen.
Und so dauerte es ganze 10 Jahre (!) seit meinem letzten die Ärzte-Konzert. Damals im Hallenstadion Zürich und wenn ich die Review nochmals lese, dann stelle ich fest, ich könnte praktisch ein Copy-Paste für diesen Bericht machen. Die Setliste hat einige Überschneidungen mit der heutigen und gleich vorweg, ich vermisse wiederum die 80er Songs, die sehr spärlich gespielt werden. Mehr dazu später.
So oder so, ist die beste Band der Welt – auch beste Live-Band der Welt – für mich eigentlich Pflicht. Mit rund 150 CDs und Platten, habe ich von keiner anderen Band eine grössere Sammlung zu Hause. Und eben, 10 Jahre sind eigentlich zu lange, auch wenn das heisst, dass ich ein verlängertes Töffweekend früher beenden muss.
Ich hab dir das Bodensee Stadion geschenkt
Aber jetzt mal der Reihe nach. Mit dem Zug fahre ich vom Zürich HB direkt nach Konstanz, wo vor dem Bahnhof auch schon die Shuttle Busse zur Bodensee Arena warten. Also alles wunderbar organisiert. Ich krieg mit meiner Presse-Akkreditierung einen «1. Welle»-Bändeli und so kann ich ca. 20 Minuten vor Beginn des Headliners – die Vorbands hab ich leider verpasst – direkt ganz vorne in den bei uns auch unter dem Namen «Golden Circle» bekannten abgesperrten Bereich vor der Bühne. Hier hat es noch ganz schön viel Platz, sodass ich ohne jemanden vor der Nase zu sein, gemütlich etwas schräg von der Bühne mit weniger als 10 Meter Abstand zur selbigen stehe.
Vorher hab ich mich noch gleich nebendran ohne Anzustehen mit Flüssignahrung mit Schaum obendrauf eingedeckt. Die Depotbecher sind u.a. mit dem Buffalo-Bill-Tour-Logo bedruckt. Yep, ich werde zwei davon nach Hause nehmen. Bekanntlich bin ich ja ein Freund – siehe Greenfield Festival 2022 Review – von bedruckten Depotbechern, die gerne auch als Sammlerstücke nach Hause genommen werden. Gut, eigentlich muss ich froh sein, gibt es das nicht öfters mit coolen Sujets … sonst wären die Küchenschränke voll davon.
Wie am ersten Tag
Also, da das Thema Becher durch ist und Durst gelöscht wird, kann es jetzt eigentlich losgehen. Und das tut es schon bald, sogar fünf Minuten zu früh gemäss dem offiziellen Timetable. Gestartet wird die heutige Sause mit einem sehr schräg weil irgendwie komplett falsch ab Band gespielten «Also sprach Zarathustra» (Titelmelodie von «2001: A Space-Odyssey»). Wie gewohnt, spielen sie die ersten Strophen der Eröffnungsnummer hinter dem Vorhang, der dann so gegen Mitte von «Himmelblau» fällt. Dann kann es jetzt also losgehen. Doch die Stimmung ist jetzt grad nicht überschwänglich oder zumindest nimmt man das in dem Open-Air-Stadion mit den flachen Rängen nicht so wahr.
Wie auch immer, nach «Noise» und den für mich einen der besten Songs der im neuen Jahrtausend von ihnen geschrieben wurde, «Wir sind die besten», gibt es dann die ersten Sprüche. Vor allem Bela ist heute supergesprächig und fast nach jedem Lied verlässt er sein Stehschlagzeug, um uns am Bühnenrand zu unterhalten. Farin steigt dann natürlich auch immer drauf ein, aber irgendwie ist es heute ein Bela B. feat. die Ärzte-Abend, was das Sprücheklopfen betrifft. Der erste Spruch heute ist folgernder «Wir sind Gott aus dem Westen». Ehrlich gesagt fehlt mir jetzt grad ein bisschen der Kontext, aber hatte glaub was mit einer Ansage von einer der beiden Vorbands – Shirley Holmes – mit BelaFarinRod zu tun.
Bela zieht seine schon länger geteilte Haarfarbenpracht von Oberbekleidung, den Schuhen bis zu seinen Drumsticks durch. Alles ist in schwarz und/oder weiss gehalten. Die Drumsticks schmeisst er auch praktisch nach jedem Song ins Publikum. Einer fliegt schliesslich in meine Richtung, aber statt den Sticks fange ich ein halbes Brillengestell. Zwei Reihen vor mir zieht ein Mädel das Fangen von diesem anstatt mit den Händen mit ihrer Brille vor. Tja, frau bezahlt ihren Preis für ein Andenken von unserem Lieblingsvampir.
Der Vampir ohne Spiegelbild
Apropos Vampir, Farin meint nach der im «Lied vom Scheitern» von Bela gesungenen letzten Songzeile «Mein Spiegelbild ist anderen egal», dass Bela der weltweit einzige Vampir mit Spiegelbild sei. Was heute allgemein auffällt, die Ärzte singen heute ziemlich textreu. Früher waren sie ja die Meister darin, die Texte immer situationsgerecht anzupassen, was es schier unmöglich macht, Ärzte-Songs live von A – Z mitzusingen. Heute sind sie also weniger spontan bei den Texten, dafür umso mehr, wie sie die Songs beenden. Mal gibt einen Grindcore-Schluss oder irgendwelche Bassläufe Melodien. Daran kann man sich auch gewöhnen
Oder bei «Meine Freunde» – Bela schreit nach dem letzten «dürfen die das» ein «Schinken» hintennach. Nicht die einzige Anspielung auf die Toten Hosen, die eine Woche früher an gleicher Stätte gespielt haben. Weiteres Beispiel gefällig? Bei «Ist das noch Punkrock?» nach dem Refrain «Ist das noch Punkrock?» ergänzt Farin ein «Was würde der Breiti dazusagen?». Oder später erzählt Bela, dass er am Vorabend ausgegangen sein – also was essen – und dort etwas Aufmerksamkeit generierte, so dass ihn jemand fragt, ob er eine prominente Person sei. Er bejahte ja mit der Antwort, er sei Campino. Nach einer Weile kamen sie zurück, nachdem sie Campino googelten, und sagten, dass er gar nicht Campino wäre, denn dieser habe eine andere Nase. Farin ergänzt dann, dass sich jetzt Campino eine neue Nase gemacht habe, die mehr derjengen von Bela gleicht. Was man an einem die Ärzte Konzert alles erfährt, füllt eine Gala und eine Glückspost über Jahre.
Ach ja, bevor ich es hier vergesse, den wichtigsten Song, denn die Toten Hosten (!) je geschrieben haben, ist übrigens «Junge». Sagt Farin und legt los mit einem weiteren Fan-Favorit der jüngeren Generation (offen gesagt, bin ich hier Wochen später unsicher, ob es wirklich Junge war … früher sagten sie das glaub eher von „Schrei nach Liebe“, dass dieser der beste Song sei, denn die Hosen je „gespielt“ hätten … Eigentlich auch egal, ihr versteht den Sidekick).
Schön auch zu erleben, dass auch sie selbst immer noch über ihre abstrusen Texte lachen müssen. Als Bela bei «Mr. Sexpistols», nachdem ihn seine Freundin abserviert hat, «du dumme alte Kuh» singt, kann sich Farin vor Lachen kaum halten. Dabei hat er diese Songzeile sicher schon hundertfach von Bela gesungen gehört. Natürlich wird in ihren Songtexten und Sprüchen wie bei ihnen typisch das Tagesgeschehen nicht verschont. Unvergesslich, als sie damals bei einer Live-Übertragung von einem Konzert in München sagten, dass sie Dieter Barschel getötet hätten. Dies führte zu einem kleineren Skandal und dazu, dass im öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehen Live-Übertragungen immer leicht zeitversetzt gezeigt werden. Heute sagen sie zwar nicht, dass sie die Queen getötet hätten (die ist vor ein paar Tagen gestorben), betiteln aber ihren Bassisten mit «Die Queen Rod Charles».
Selber geben sie nach wie vor nicht so viel von ihrem Privatleben preis. Als jemand nach «Ich bin reich» verlangt, meint Farin, dass sei ihm zu intim und dass er nicht über sein Privatleben singen möchte. Auch wenn ihnen alle Autos dieser Welt gehörten. Wir hätten die alle nur von ihnen geliehen. Später erfahren wir auch noch, dass ihnen nicht nur der Bodensee (u.a. bei «Zu spät» mit «du warst mit ihm in Konstanz, ich hab dir nur den Bodensee geschenkt»), sondern allen Yachten darauf gehören. Soviel zu «ich möchte nicht über mein Privatleben singen.»
Bela will uns allenfalls auch noch was mitteilen, mit der Aussage «Cool, ist das neue schwul». Gut, dass die Ärzte polyamourös und ziemlich flexibel sind, kennen wir ja aus Songs wie «Geschwisterliebe», «Samen im Darm», «Bitte, bitte» oder «Rock Rendezvous». Was er genau mitteilen wollte hab zumindest ich nicht gecheckt. Aber das muss man ja bei den die Ärzte auch nicht. Gewisse Sprüche und Aussage sind so abstrus, dass sie wohl teilweise Tage selber nicht mehr wissen, was sie damit eigentlich meinten. Das macht ein DÄ-Konzert eben aus. Spontan kommt vor Plan.
Tja und so geht es munter weiter, denn schliesslich sind sie gemäss Farin «der Chuck Norris unter den Bands». Das passt doch durchaus. An Selbstvertrauen hat es der Band aus Berlin ja nie gemangelt. Keiner und niemand, wirklich niemand kann ihnen da das Wasser reichen.
Wer schon an einem die Ärzte-Konzert war, weiss dass Farin ein Laola-Junkie ist. Doch heute will er mehr. Er verlangt nach einer Licht-Laola-Welle (mit dem Natel-Licht). Die funktioniert erstaunlich gut. Choreografieren konnten sie schon immer. Irgendwann ist dann aber genug und so sollen wir das Licht wieder ausmachen und Batterien sparen – oder schlichtweg einfach «… wieder die Band filmen».
Dann trink ich doch lieber Tee
Wer immer wissen wollte, ob Farin während den Konzerten wirklich Tee aus seiner legendären Tasse trinkt: Ja, definitiv und sogar heiss. Der dampft jeweils gewaltig. Bela will der Sache auch auf den Grund geben und probiert gemäss seiner eigenen Aussage zum allersten Mal auf der Bühne, was da Farin jeweils trinkt. Überzeugen lässt er sich davon jedoch nicht: «Wieder mal etwas, was mit Alkohol besser schmeckt».
Und ja, gespielt haben sie auch noch den einen oder anderen Song. Um genau zu sein 37 (plus ein paar angespielte und reingequetschte – z.B. bei Zu spät gibt es noch ein bisschen Claudia dazwischen). Was sind die Highlights von der Setliste? So zum ersten Mal richtig gute Stimmung kommt nach ziemlich genau einem Drittel der Setliste bei «Hurra» auf. Ergänzt mit «Wünsch dir was» aus Düsseldorf … und einem «Hey Jude» aus Liverpool.
Den ersten grösseren Pogo erspähe ich kurz darauf beim «Schunder Song». Es sind die Momente, die auch bei Bela Erregung auslösen: «Konstanz ihr seht grad nicht was in meiner Hose passiert.» Aber wie so oft sind es auch bei den die Ärzte eher die älteren Songs, die für die beste Stimmung sorgen. Und auch nicht ganz neu ist, dass wenn Rod die Gitarre und Gesang übernimmt, es eher für eine Flaute sorgt. So genial er als Musiker ist und sicher auch ein netter Kerl, er ist trotz 30jähriger Bandzugehörigkeit immer noch der Neue. Gegen die Sprüche eines Bela oder Farin anzukommen, ist eh praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Aber vielleicht wird Rod ja jetzt eh Queen vom United Kingdom und findet da seine wahre Berufung. Nicht dass man mich hier falsch versteht – OK, das kann man wohl definitiv – ich möchte ihn nicht aus der Band haben und ich bin auch überzeugt, dass er für diese sehr wichtig ist als Bindeglied zwischen den Alpha-Tieren Farin und Bela. Ich wage sogar zu behaupten, ohne Rod gäb es wohl die die Ärzte schon länger nicht mehr. Und dass mir seine Art zu singen nicht gefällt, ist ja vielleicht auch ganz subjektiv.
Nicht ganz subjektiv ist die Band, wenn es um Befehle an die Fans erteilen geht. Seit Jahren setzt man sich bei «Unrockbar» hin und um dann genau beim Singen des titelgebenden Wortes hoch zu springen. Nach so langer Konzert-Abstinenz der Berliner braucht es da aber etwas Anschubhilfe: «Wer jetzt noch steht ist AfD Wähler». Damit wäre das auch geklärt. Und es wird gesitzt.
Kurz nach dem Gehüpfe verlassen sie das erste Mal die Bühne, um schliesslich noch zehn Songs als «Zugabe» nachzuliefern. Inklusive einem Motörhead-Cover – zumindest wird das Riff für die Crew angespielt: «(We are) The Road Crew».
Um 22.50 Uhr ist dann Schicht im Schacht. Perfektes Timing, um noch mit ÖV nach Zürich zu kommen.
Das Fanzit – Die Ärzte – Bodensee Arena 2022
Hm, was soll ich als Fanzit schreiben? Gar nicht so einfach. Ich denke die Band aber auch ich bin älter geworden. Phasenweise war es für mich sehr emotional nach einer längeren Zeit, die die Ärzte endlich wieder Mal live zu erleben. Vor allem bei den Klassikern und eher älteren Songs. Wie haben wir auf dem Schulweg damals aus tiefster Überzeugung «Zu spät» oder «Du willst mich Küssen» gesungen. Oder dann später zig Pogos mit «Hurra», «Schrei nach Liebe» und dem «Schundersong» erlebt und auch als DJ oft gespielt und so initiiert. So war es heute vor allem eine Zeitreise in meine Jugend. Aber so ganz überragend war es nicht. Sind sie noch die beste Band der Welt? Gemäss Google ja schon. Sind sie auch noch die beste Live-Band der Welt? In vielen Bereichen ja, aber ob ich das so unterschreiben würde, lass ich das jetzt einfach mal so stehen.
PS: Wer die die Ärzte dieses Jahr verpasst hat, der kriegt im nächsten Jahr am Greenfield Festival die Gelegenheit dazu. Für ein die die Ärzte-Konzert lohnt es sich auf jeden Fall auch an ein Festival zu pilgern. Wir sehen uns. Denn eines ist klar; Die die Ärzte sind bei mir auch in Zukunft live ein Pflichttermin.
Setliste die Ärzte – Bodensee Arena 2022
- Himmelblau
- Noise
- Wir sind die Besten
- Meine Freunde
- Mr. Sexpistols
- Lasse redn
- Fiasko
- Angeber
- Ist das noch Punkrock?
- Doof
- Rettet die Wale
- Hurra
- Nichts in der Welt / Las Vegas
- Schunder-Song
- Buddy Holly’s Brille
- Ich, am Strand
- Lady / 1/2 Lovesong
- Morgens Pauken
- Friedenspanzer
- Der Graf
- Wissen
- Ausserirdische
- Rebell
- Lied vom Scheitern
- Unrockbar
- Dinge von denen
- Ignorama
- Wie es geht
- Mach die Augen zu
- Dunkel
- Heulerei
- Schrei nach Liebe
- Du willst mich küssen
- Junge
- Zu spät (dazwischen Claudia hat ‘nen Schäferhund)
- Dauerwelle vs. Minipli
- Gute Nacht