Unverblümter Rock
So wandlungsfähig wie ihre bunten Haare – Seraina Telli veröffentlicht mit «Simple Talk» das erste Album ihres Solo-Projekts, das nach ihrem bürgerlichen Namen benannt ist.
Repetieren, was andere vorgemacht haben, war noch nie Seraina Tellis Ding. Nach ihrem Ausstieg als Sängerin bei der Metal-Band «Burning Witches», veröffentlichte sie mit ihrer eigenen Band «Dead Venus» zwei grossartige Alben, die aufgrund ihrer vielen musikalischen Einflüsse kaum einem Genre zuzuordnen sind. Deshalb bezeichnet man sie als Progressiv-Metal.
«Simple Talk» hingegen verschreibt sich deutlicher dem klassischen Rock, beziehungsweise Hardrock. Die Songs wirken entsprechend enger an eine Stilrichtung gebunden. Der Rock’n’Roll zeigt sich hier trotzdem nicht als etwas, was schon unzählige Male durch die Musik-Drehorgel gepresst wurde: Serainas Lieder klingen, auch auf «Simple Talk», erfrischend anders. Irgendwie gewohnt, aber doch anders. Mit einer Ausnahme.
Rock ’n‘ fucking Roll
«Bekannt, aber anders» klingt beispielsweise eine eigene Neuinterpretation des Jazz-Songs «Fever», im fetzigen 80s Sound mit E-Gitarre und dem für diese Musik-Epoche unentbehrlichen Synthesizer. Trotzdem, dass «Fever» bereits unzählige Male gecovert wurde, erscheint es hier in brandneuem Kleid, man muss gar genauer hinhören, um zu erkennen, dass es sich um ein Cover handelt. In etwa wie bei der Dead Venus Version von «Bang Bang», im Original von der Musikerin Cher.
Tellis Rock orientiert sich auf der Scheibe mal mehr mal weniger nach dem Sound der 80er, durchaus auch an New-Wave-Pop-Einflüssen aus jenem Jahrzehnt. So schimmert nicht nur in «Fever» Synthesizer durch, in anderen Tracks ist das Tasteninstrument ebenfalls ein wenig zu hören, so zum Beispiel im Intro von «G.E.B» oder in «I’m Not Sorry». Verglichen mit Dead Venus verzichtet man aber darauf dieses in den Fokus zu rücken, das Keyboard dient eher als das Tüpfchen auf dem i. Im Vordergrund steht eine für Hardrock typische, minimalistische Instrumentalisierung aus Gitarre, Bass, Schlagzeug. Viel mehr nicht. Durch mehrmals eingespielte, übereinandergelegte Tonspuren und genialen Mitmusikern klingen die Lieder klanglich trotzdem voll und ausgereift.
«Simple Talk» könnte für das Album keine passendere Beschreibung sein. Die Lyrics verzichten bis auf einige Ausnahmen auf komplizierte Umschreibungen, sagen klar und deutlich, was sie zu sagen haben, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen: «Get your fucking shit together», wie es in «Take Care» heisst.
Erzähl mir was über mich
Lieder wie «Modern Warrior», «I Dare To», «Remedy» und diverse weitere auf der Platte, richten sich an das Selbstvertrauen, den Selbstwert des Hörers, fordern ihn dazu auf, wieder zu träumen («Dreamer»), um sich besser zu fühlen, besser mit seiner Umwelt zurechtzukommen. Refrains wie in «I’m Not Sorry» sind herzerwärmend und wirken authentisch. Kitschig wird es trotzdem nicht. Dafür sorgen stampfend, rhythmische musikalische Untermalungen, teils Einsatz von, für die Stilrichtung eher untypischem, Sprechgesang («G.E.B.») und musikalisch wie gesanglich aggressive Untertöne, teils auch gleich unmissverständliche geradlinige aggresive Klänge, die sich nicht im Sahnehäubchen der Songs verstecken, sondern den Tortenboden bilden.
Diese «Gesamt-Konstrukte» fühlen sich einfach gut an, mal aufgrund der inneren Unruhe, die sich an den Tracks abbauen lässt, mal aufgrund entspannenden Melodien.
Die Platte macht Lust, in Dauerschleife gehört zu werden. Dies wäre auch im Shuffle-Modus möglich, denn eine Dramaturgie in der Abfolge der Songs ist nicht wirklich erkennbar. Intermezzos sind inexistent, weshalb sich «Simple Talk» eher nicht aus der Perspektive eines «Gesamtwerks» betrachten lässt, der gemeinsame Nenner der Lieder bezieht sich hier vor allem auf das Genre, ansonsten könnten sie auch losgelöst voneinander gehört werden. Beispielsweise als Baustein einer Spotify-Playlist.
Telli wird und will sich niemandem anpassen («Not One Of Your Kind»). Diese Lebenseinstellung wird weiter an den Hörer appelliert, dies unmissverständlich, so dass sich gegebenenfalls tatsächlich Gedanken breitmachen: ob man sich vielleicht zu viel gefallen lässt, sich zu oft, zu sehr anpasst?
Eigenständig, zwang-befreit durch das Leben gehen zu wollen, scheint so etwas wie ein weiterer roter Faden zu sein, der sich durch das Album schlängelt. Je nach Auffassung also doch noch ein weiterer gemeinsamer Nenner.
Feinheiten
Inhaltlich am schwersten zu verstehen ist sicherlich der Song «G.E.B». Richtet sich die Interpretation nach einem lyrischen «Ich», könnte der Text von einer (männlichen) Person handeln, die Seraina oder wenn auch immer, belehren will, dass sie ein «Wannabe» sei, und es ungerechtfertigt ist, dass sie mit ihrer Musik, ihrer Kunst, das Interesse anderer erweckt.
Wenn das lyrische «Ich» hingegen tatsächlich Seraina Telli selbst entsprechen würde, könnten Zeilen wie
«Don’ try to tell me somethimng, because I keep on wondering how someone has get so far, with nothing but blablabla.
So where the fuck ist the quality […]»
auch ganz anders (Über-) interpretiert werden, hinsichtlich der musikalischen Karriere von Telli. Doch darüber will ich keine weiteren Worte verlieren. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der Song an jemand in der Öffentlichkeit Existierenden gerichtet ist und Metalinside ist kein Klatschmagazin. Für was «G.E.B» genau steht, bleibt unerklärt. Es darf weiter interpretiert werden.
Auch Balladen finden ihren Platz. «Soldier Of Fortune» soll das erste Liebeslied sein, das Seraina geschrieben hat. So sagte sie es zumindest an einem Konzert.
Je nach Auslegung hat sich ein weiteres Liebeslied auf das Album geschlichen, allerdings ein eher melancholisches, über eine zerflossene Liebe. «Remember You» wurde bereits 2020 auf dem YouTube-Kanal «Seraina Telli» veröffentlicht, hier noch nicht in Bezug auf das Album «Simple Talk». Welcher Song zuerst geschrieben wurde, lässt sich natürlich nicht nachvollziehen.
Der Track «Take Care» macht zu Beginn ebenfalls den Anschein einer «Accoustic-Ballade», wechselt dann aber gleich, den Lyrics entsprechend, in ein schnelles Riff, nun von einer elektrischen Gitarre. Von da an boxt sich der Track dann bis zum Schluss «hardrockig» weiter, vorbei an dem Gegenüber, das sich endlich mal in Acht nehmen soll: Man will nicht ständig hinter ihm aufräumen müssen. Selbst einem kleinen Gitarrensolo hat man in dem Lied Platz gelassen. Viele weitere Instrumentalsolos finden sich auf «Simple Talk» nicht. Die Songs sind eher kurzgehalten, im Schnitt zirka drei bis vier Minuten lang, was im Vergleich zur Popmusik dennoch eher länger ist, aber nicht im Vergleich zu den Liedern, die sonst noch so aus Tellis Feder stammen: Ein Dead Venus Lied dauert gut und gern mal sechs bis sieben Minuten. Jene Band hat sich aber bekannterweise dem «Progressiv-Sektor» zugeordnet, in dem lange Kompositionen gang und gäbe sind.
«Please go back to Burning Witches»
Immer wieder lässt sich in Kommentarspalten auf mehr oder weniger sozialen Netzwerken, hauptsächlich Facebook, der Wunsch lesen, Telli möge doch zu ihren «Wurzeln» zurückkehren und wieder Heavy Metal / Power Metal / Thrash Metal machen. Jedenfalls etwas, was gewohnter klingt als dieses progressive Ding. Am besten in einer All-Woman-Metal-Band, damit es auch gleich was, ohne Störfaktoren, für die Augen gibt. Warum fortschreiten, wenn man auch das machen kann, was bereits jahrzehntelang konservativ durchgezogen wurde, was heute repetiert, aber weder neu interpretiert noch anders umgesetzt wird. Es funktioniert ja schliesslich (noch). Für Fans dieser Epoche von Seraina Tellis Schaffen, gibt es jetzt auf dieser Platte, als Abschluss der Tracklist, den Song «Medusa». Ein eher unspektakuläres Stück Musik auf der Scheibe. Sicherlich, Spass macht es und die Analogie einer Frau, die denjenigen, der sie anblickt, zu Stein erstarren lässt, zu einer charakterstarken Frau, die sich nichts gefallen lässt, ist eine kreative Abhandlung dieser Mythologie. Dennoch klingt der Song nach etwas, was man von Telli schon einige Male gehört hat, nur sind dieses Mal andere Leute an den Instrumenten.
Das Fanzit Seraina Telli – Simple Talk
Antiquiert – das ist Seraina Tellis Hardrock definitiv nicht. Um es klarer auszudrücken: «Rock ’n’ Roll will never die», zumindest so lange wie es Künstlerinnen wie Telli gibt, die sich ständig neu zu erfinden wissen, Abwechslung und Frische in die Musik bringen. «Simple Talk» ist dafür ein Paradebeispiel und zeigt, was die Interpretin ausmacht. Egal, was, Seraina ist immer rauszuhören und das nicht nur aufgrund ihrer Stimme. Ihren unvergleichbaren Stil erkennt man selbst bei ihrem Beitrag zum (Indus-) Gothic Projekt «Division:Dark», ein Sampler, der in den Fluten des Musik-Meers untergegangen zu sein scheint.
Die hauptsächlich hart, aggressiv gehaltenen Tracks auf Simple Talk ballern durch das Album und feuern so richtig ein, genau das Richtige für eine Zeit, in der geraten wird, die Heizungstemperatur möglichst niedrig zu halten, um Energie zu sparen. Kraftvolle Stücke mit lauten Gitarren, vermutlich jedermanns Sache, der den musikalischen Werdegang von Seraina verfolgt, trotzdem hätten ein paar weitere ruhigere Stücke der Platte nicht geschadet.
Das Rad neu erfunden wurde mit diesem Album sicherlich nicht, ein paar neue Speichen hinzugefügt hingegen schon. Vergleichbar mit Dead Venus ist Seraina Tellis Solo-Projekt kaum, schon rein stilistisch. Mir machen beide Projekte Spass und ich bin gespannt, was noch kommt. Vielleicht wird «Seraina Telli» zu einem Experimentierkasten für Genres und Ideen, die nicht in das Konzept von Dead Venus passen, ein Auffangbecken für «Just for fun» geschriebene Songs (?)…
Es bleibt interessant.
Tracklist Seraina Telli – Simple Talk
- Modern Warrior
- I’m Not Sorry
- Take Care
- I Dare To
- Remedy
- Soldier Of Fortune
- E.B.
- Dreamer
- Not One Of Your Kind
- Fever
- Remember You
- Medusa
Line-up
- Seraina Telli – Vocals, Guitars
- Alice Lane: -Bass
- Rico H – Drums
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