Hypocrisy-Anbetung
Wenn Mastermind Peter Tägtgren ruft, dann gehorchen die Massen. 2022 hat sich der Schwede dazu entschlossen, mit seinem wahrscheinlich ältesten Projekt auf Tour zu gehen. Wer also Hypocrisy und unter anderem Liedgut des neuen Eisens «Worship» live und in Farbe erleben wollte, musste am Mittwochabend gezwungenermassen in die Zentralschweiz pilgern.
Der Verein Metal Storm Concerts wird den November zweifelsohne prägen. Schliesslich haben die Verantwortlichen sowohl für den Monatsanfang als auch für dessen Ende je ein heftiges Package gebucht. In diesem Bericht beschäftigen wir uns mit Hypocrisy, Septicflesh, The Agonist und Horizon Ignited, welche allesamt am heutigen Abend in der umgebauten Schüür aufschlagen werden. Richtig gelesen, die Luzerner Konzertscheune hat die Umbauarbeiten hervorragend überstanden und erstrahlt nun in neuem Glanz. Insbesondere die Sanitäranlagen im Obergeschoss machen eine verflucht gute Gattung. Aber wir sind ja notabene nicht hier, um irgendwelche Keramikschüsseln zu beurteilen. Unser Augen- und Ohrenmerk sollte in der Regel ausschliesslich den musikalischen Darbietungen gelten. Wobei dieses Vorhaben ohne Sprit im Tank eher schlecht funktioniert. Deshalb schnappe ich mir an der Bar rasch ein Bügelbier und platziere mich anschliessend rechts vor der Bühne. Bei insgesamt vier Kapellen auf dem Plan beginnt das Programm nachvollziehbarerweise frühzeitig.
Horizon Ignited
Die Verantwortung für einen gelungenen Auftakt lastet auf den Schultern der 2017 ins Leben gerufenen Band Horizon Ignited. Die Jungs aus dem Süden Finnlands vereinen in ihrem Schaffen die beiden Stilrichtungen Melodic Death Metal und Metalcore. Dieses Land ist einfach ein Phänomen. Wie kann man bitteschön in solcher Konstanz ausgezeichnete Formationen hervorbringen? Langsam ist mir diese «Fliessbandproduktion» äusserst unheimlich. Gleichzeitig hoffe ich darauf, dass diese Quelle niemals versiegt. Toll, nun können Fachpersonen bei mir wahrscheinlich schon erste Anflüge von Schizophrenie diagnostizieren… Da seht ihr einmal, was finnische Truppen mit mir anstellen.
Der glatzköpfige Sänger Okko Solanterä zieht mit seinem bohrenden beziehungsweise stechenden Blick locker jeden in seinen Bann. Huch, der ist für mich ja überhaupt kein Unbekannter. Über seine inzwischen nicht mehr existierende Ex-Band Babylonfall habe ich vor circa zwei Jahren eine Plattenkritik verfasst (siehe Review). Okko wechselt spielend leicht zwischen Growls und Klargesang. Boah! Mit «Leviathan» hat das Sextett eine astreine Überhymne als Ass im Ärmel. Ich lehne mich kurz frech aus dem Fenster und wage zu behaupten, dass wir Horizon Ignited nicht zum letzten Mal auf einer helvetischen Bühne gesehen haben. Vielleicht liegt beim nächsten Gastspiel sogar ein gemeinsames Feierabendbierchen drin. Die Jungs wirken nämlich wie die ideale «Trinkbegleitung», welche nie Langeweile aufkommen lässt.
The Agonist
Genretechnisch bleiben wir bei der nächsten Formation auf derselben Schiene wie bei Horizon Ignited. Allerdings gibt nun eine Frau den Ton an. Die Rede ist natürlich von der stimmlichen Urgewalt namens Vicky Psarakis. Mit ihrem Pullover und den Tarnanzughosen sieht sie fast so aus wie ein kleiner General. Das Gebrüll würde sie jedenfalls problemlos beherrschen. Soll ich gemein sein? Wer braucht schon Alissa White-Gluz? Ihre Nachfolgerin ist in dieser Verfassung eindeutig ein Fels in der Brandung. Selbst die klar vorgetragenen Abschnitte bereiten ihr kaum Probleme.
Gestern residierte der ganze Tross in Lausanne. Glücklicherweise scheinen die Protagonisten dabei nicht gleich sämtliche Energiereserven aufgebraucht zu haben, weshalb wir auf der anderen Seite des «Röschtigrabens» lebenden Nasen ebenfalls in den Genuss von packenden Shows kommen. Die Setliste ist geprägt von Tracks des letzten Studioalbums «Orphans» (2019) und von Nummern der im vergangenen Jahr veröffentlichten EP «Days Before The World Wept». Die Gruppe agiert dankbar und freudig. Beim finalen Song fällt schliesslich auch der Pullover von Vicky und weicht einem – sagen wir einmal – etwas legererem Oberteil. Heilige Jungfrau Maria! Da hat definitiv nicht bloss mein Kiefer vorübergehend Bodenkontakt. Ein rattenscharfer Abschluss eines überzeugenden Gigs.
Septicflesh
Die nächsten Kompositionen stammen direkt aus der griechischen Hauptstadt Athen. Dort sind die Herren von Septicflesh beheimatet. Ihr Todesblei reichern sie bevorzugt mit atmosphärischen und symphonischen Elementen an. Das verleiht dem Ganzen sowohl Wucht als auch jede Menge Epik. Das ist im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Equipen dann schon nochmals ein anderes Kaliber. Fronter Spiros Antoniou, der stimmlich durchaus Parallelen zu Moonspell-Anführer Fernando Ribeiro aufweist, und seine Kameraden präsentieren sich in bestechender Form. Eine wahre Glanzleistung der Hellenen!
In ihrer ausgewogenen Setliste haben sie einige Hits untergebracht. «Pyramid God», «The Vampire From Nazareth» oder «Anubis» – meisterhaftes Liedgut von A bis Z. Da viel Bombast und Dramatik in Form von Samples ab Tonband daherkommen, würde man sich fast wünschen, die Show eines Tages in Begleitung eines echten Orchesters erleben zu können. Das wäre garantiert das «Nonplusultra»! Obschon Septicflesh auch bereits hier im kleinen Rahmen absolut zu überzeugen wissen. Bisher diskussionslos die beeindruckendste Performance, welche wir bestaunen durften. Störend sind lediglich die beinahe nach jedem Stück durchgeführten Verschnaufpausen, bei welchen die Künstler kurz hinter den aufgestellten Bannern verschwinden. Nicht gerade förderlich für einen reibungslosen Konzertfluss. Das wird jedoch das einzige kleine Härchen in der ansonsten extrem mundenden Suppe bleiben.
Hypocrisy
Bleibt also noch der Headliner übrig, welchen einige von uns charmant in schönstem Schweizerdeutsch als «Hypo-Chriesi» bezeichnen. Mit der rockigen AC/DC-Dampflokomotive werden wir auf die Ankunft der Schweden vorbereitet. Standesgemäss steht dem Vierer die gesamte «Spielwiese» zur Verfügung und sie können sich deshalb richtig austoben. Felle-Klopfer Henrik Axelsson sitzt auf einer Art UFO respektive Raumsonde. Fraglos ein Indiz dafür, dass die Sci-Fi- und Alien-Thematik in der Kunst dieser Kapelle nach wie vor eine wichtige Rolle spielt. Passt irgendwie auch zu den letzten Ereignissen auf unserer Erdkugel. Nach Corona-Pandemie und Kriegen folgt als Kirsche auf der Torte noch eine Invasion von Ausserirdischen. Das würde wohl effektiv niemanden mehr grossartig überraschen.
Hypocrisy bieten grandiosen Service und präsentieren den Fans Material von sämtlichen der 13 bisher veröffentlichten Studioalben. Maestro Peter «Peti» Tägtgren mag zwar mittlerweile recht ergraut sein, aber seinen Biss hat er keinesfalls eingebüsst. Selbiges gilt für seine Mitstreiter. Die Altmeister können es in Tat und Wahrheit immer noch! Ein 90-minütiges Geballer, welches mit Krachern der Marke «Fire In The Sky», «Eraser» oder «Fractured Millennium» gespickt ist. Neuere Geschichten wie die mit chemischen Stoffen vollgepumpte Bordsteinschwalbe («Chemical Whore») gliedern sich ebenfalls locker in das bestehende Gefüge ein. Beim abschliessenden «Roswell 47» werden dann nochmals alle in der inzwischen akzeptabel besuchten Schüür vorhandenen Haare mit Schmackes herumgewirbelt.
Das Fanzit – Hypocrisy, Septicflesh, The Agonist, Horizon Ignited
Heute war gefühlt jede Band nochmals eine Stufe besser. Trotzdem hiess mein Tagessieger am Schluss Septicflesh. Das war einfach eine atemberaubende Vorstellung. Möglicherweise sollten die Herren bald einmal über eine gemeinsame Tour mit ihren Landsleuten von Rotting Christ nachdenken. Ein grosses Dankeschön in Richtung Metal Storm Concerts! Genau solche Abende brauchen wir grundsätzlich öfters.
Setliste – Horizon Ignited
- Beyond Your Reach
- Servant
- Guiding Light
- Equal In Death
- Fall Apart
- Carry Me
- Leviathan
- Eventide Of Abysmal Grief
- Towards The Dying Lands
Setliste – The Agonist
- In Vertigo
- Blood As My Guide
- Remnants In Time
- The Wake / Resurrection
- Follow The Crossed Line
- Burn It All Down
- Immaculate Deception
- Days Before The World Wept
Setliste – Septicflesh
- Portrait Of A Headless Man
- Pyramid God
- Neuromancer
- The Vampire From Nazareth
- Hierophant
- Martyr
- Communion
- A Desert Throne
- Anubis
- Dark Art
Setliste – Hypocrisy
- Intro – Rock ‚N‘ Roll Train (AC/DC-Song)
- Worship
- Fire In The Sky
- Mind Corruption
- Eraser
- Inferior Devoties
- Chemical Whore
- Until The End
- Don’t Judge Me
- End Of Disclosure
- Weed Out The Weak
- Children Of The Gray
- War-Path
- The Final Chapter
- Fractured Millennium*
- Impotent God*
- Adjusting The Sun*
- The Gathering / Roswell 47*
*Zugabe