Wiedergeburt
Lange mussten die Fans der deutschen Symphonic-Metaller Xandria auf ein Lebenszeichen ihrer Helden warten: Nach der Veröffentlichung des viel beachteten „Theater of Dimensions“ im Jahr 2017 wurde es um die Truppe von Bandleader Marco Heubaum auffallen ruhig. Anfang dieses Jahres erschien dann doch noch das lange erwartete achte Studioalbum „The Wonders Still Awaiting“ – eine Art Wiedergeburt!
Der aus Bielefeld stammende Gitarrist hat dabei wieder einmal ein goldenes Händchen bewiesen und mit Robert Klawonn (Gitarre), Tim Schwarz (Bass), Dimitros Gatsios (Schlagzeug) und der herausragenden Ambre Vourvahis am Mikro eine Combo zusammengestellt, die besser klingt als je zuvor. Wir unterhielten uns mit Marco u.a. über Themen wie Songwriting, Storytelling, Veränderungen im Musikbusiness sowie Filmvorlieben.
MI: Marco, zunächst einmal vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview nimmst.
Marco: Sehr gerne!
MI: Nach fünf Jahren Abstinenz sind Xandria letztes Jahr wie Phönix aus der Asche zurückgekehrt. Als sich die Band 2017 in eine Art Pause verabschiedete – hast du damals daran geglaubt, je wieder auf Tour zu gehen?
Marco: In der Zeit, in der die Gruppe pausierte, haben wir uns nicht wirklich viele Gedanken über die Zukunft gemacht. Das Ziel war einfach, den Kopf freizubekommen. Und erst später darüber nachzudenken, wie und wann es weitergehen könnte. Und eines Tages war es dann so weit.
MI: Ich vermute, dass die Wahl von „Reborn“ als Single- und „The Wonders Still Awaiting“ als Album-Titel kein Zufall war, sondern in gewisser Weise auch diese Auferstehung der Band symbolisieren sollte.
Marco: Da hast du natürlich völlig recht. Der Text von „Reborn“ handelt ja genau von diesem Gefühl, und die Lyrics des Titelsongs zielen in die gleiche Richtung. Was die Musik mir gibt. Mir als demjenigen, der sie erschafft, diese ganz eigene Welt. Meine Fantasie, meine Träume. Wie viel mir das bedeutet und wie wichtig es für mich ist, weiterzumachen.
MI: Die Musik, die du erschaffst – wie läuft das bei euch? Ich nehme an, du bist da die treibende Kraft?
Marco: Ja, auf dem neuen Album stammen alle Songs aus meiner Feder.
MI: Auch die Lyrics?
Marco: Zum Teil. Ich habe mir diese Aufgabe ungefähr zur Hälfte mit unserer neuen Sängerin Ambre [Vourvahis] geteilt.
MI: Wie spricht man ihren Namen korrekt aus?
Marco: Ombr [‚õmbr] – ohne das ‚e‘ am Ende.
MI: Da kann ich mich wie schon bei Jen Majura [ˈdʒɛn madʒˈura] wieder mit phonetischer Schrift auseinandersetzen [lacht]. Haben sich die heftigen Wechsel im Line-Up irgendwie im Sound von Xandria niedergeschlagen?
Marco: Jeder meiner Mitmusiker spielt natürlich sein Instrument und hat so einen Teil seiner Persönlichkeit eingebracht. Aber am Songwriting waren sie nicht beteiligt.
MI: Dann lass mich so fragen: Wie schreibst du einen Song?
Marco: Meistens entsteht ein Lied zuerst in meinem Kopf. Es ist ein wenig so, wie wenn ich auf den Play-Knopf eines Musik-Players drücke. Naja, heutzutage wäre das eher eine Streaming-App, die in meinem Hirn installiert ist [lacht]. Oder früher ein CD-Player. Dann läuft da ein Lied ab, das es noch gar nicht gibt. Meistens nur eine kurze Passage, auf der ich dann den Rest aufbaue. Das kann zum Beispiel eine Gesangsmelodie sein – das kommt sogar ziemlich häufig vor. Manchmal ist es aber auch ein Gitarrenriff, das in meinem Kopf herumspukt oder sich wie zufällig entwickelt, wenn ich spiele. Oder einfach etwas mit dem Keyboard oder einem Sample experimentiere. Dann denke ich oft, das klingt cool, daraus könnte ein Song entstehen. Das ist ganz unterschiedlich, variiert von Fall zu Fall. Nimm zum Beispiel das Stück „The Wonders Still Awaiting“. Das basiert sehr stark auf diesem Chor, den man am Anfang hört. Damals arbeitete ich gerade an einem anderen Track und hatte ein Cubase-Projekt [Cubase ist eine Musikproduktionssoftware] geöffnet. Während einer vielleicht fünfminütigen Pause spielte ich mit dem Keyboard etwas auf der Chorspur herum und sagte mir, das klingt doch ganz nett. Das nehme ich auf und mache daraus einen eigenen Song, der dann zu „The Wonders Still Awaiting“ wurde.
MI: Spannend! Aber besteht nicht die Gefahr, dass du – sagen wir mal – Inspirationen hast, die von einem früheren Lied stammen könnten? Oder Einflüsse von aussen einfliessen, die du vielleicht im Radio gehört hast? Wie kontrollierst du das?
Marco: Ich glaube, diese Gefahr besteht für jeden Musiker. Denn schliesslich gibt es nur 12 Töne. Daraus ergibt sich zwar eine grosse Anzahl von Kombinationen, aber auch die ist endlich. Aber ich höre relativ schnell, wenn es etwas schon einmal gegeben hat. Vorausgesetzt natürlich, dass ich es überhaupt kenne. Es gab in der Tat schon ein, zwei Fälle, wo ich mit einem neuen Song angekommen bin und mir gesagt wurde, das klinge ein bisschen wie dies oder das … Ich meine, man kennt ja auch nicht alle Lieder. Wenn so etwas passiert, ändere ich es entsprechend ab oder verfolge es gar nicht weiter. Das kommt vor, nicht nur bei mir. Aber das Wichtigste ist, etwas Eigenes zu erschaffen und nicht nur bewusst zu kopieren. Das käme für mich nie infrage.
MI: „The Wonders Still Awaiting“ klingt für meinen Geschmack vielschichtiger, härter, beinhaltet zugleich aber auch mehr symphonische Elemente, Chöre … Plus natürlich auch die Stimme von Ambre, auf die ich später noch zu sprechen kommen werde. Was war der Grund für diese Veränderung?
Marco: Das hat sich einfach so ergeben. Als ich damit begann, die neuen Lieder zu schreiben, hatte ich keinen konkreten Plan vor Augen. Auch nicht die Idee, mich in irgendeiner Weise von der Vergangenheit abgrenzen zu wollen. Aber natürlich freue ich mich, wenn die neuen Songs so gut ankommen! Nun, für mich war von Anfang an ziemlich schnell klar, dass ich keine rein im klassischen Bereich verankerte Stimme mehr haben wollte, da mir eine vielseitigere Vokalistin weitreichendere Möglichkeiten eröffnen würde. Ambre war für mich als Songwriter einfach ein grosses Geschenk, weil sich durch sie viel mehr Möglichkeiten eröffneten, Emotionen in den Songs auszudrücken. Etwas, das sich mir zuvor nur begrenzt bot. Und etwas, wofür ich sehr dankbar bin.
MI: Wie von dir erwähnt, ist Ambre eine sehr vielseitige Sängerin, die nicht nur hohe Töne anschlägt, wie es im Symphonic Metal oft der Fall ist, sondern sich eher im mittleren Bereich bewegt. Wie kam sie zur Band?
Marco: Wir kannten uns bereits vor Xandria und haben auch schon in anderen Musikprojekten gemeinsam musiziert. Aber nichts, was wir wirklich weiterverfolgt hätten. Irgendwann stellten wir dann fest, dass diese Kombination einfach zu Xandria passen würde. Vor allem, weil mich unsere Zusammenarbeit inspiriert hat, wieder mit Xandria anzufangen. Das war solch ein Moment, der mir diesen Horizont wieder geöffnet hat. Das musste einfach passieren, bevor ich wieder bereit war, Xandria-Songs zu schreiben.
MI: Wie hiess das andere Projekt, an dem ihr gemeinsam gearbeitet habt?
Marco: Es hatte noch keinen bestimmten Namen. Ambre hat zudem bei ein, zwei anderen Bands gesungen, die auf Spotify vertreten sind. Sowie letztes Jahr bei zwei Live-Auftritten von „Fragment Soul“ mitgewirkt, einer Progressive Rock Metal Band aus Griechenland. Da war ich auch ein bisschen involviert. Und aus alledem ist dann diese tolle Verbindung entstanden.
MI: Auch die Texte heben sich positiv von den typischen Rock-Themen ab. Wie wichtig ist dir das Erzählen von Geschichten?
Marco: Sehr wichtig. Musik kann meiner Meinung nach auch ohne Text eine Geschichte erzählen. Aber sie erzeugt in mir eine bestimmte Stimmung. Eigentlich habe ich immer, wenn ich an einem Lied arbeite – sei es an der Musik oder nur an einer Idee – oft schon von Anfang an eine ziemlich gute Vorstellung davon, worum es im Text gehen könnte. Und dann nehme ich natürlich einfach die Dinge, die mich gerade beschäftigen. Beim aktuellen Album waren es eher persönliche Gefühle, wie die Freude an der Musik wiederzufinden, nachdem sie mir damals ein wenig genommen worden war. Und auf der anderen Seite soziale Erfahrungen aus meiner Vergangenheit. Wie ich vom Kind zum Musiker wurde. Das ist ebenfalls ein Thema, das mich immer wieder beschäftigt. „My Curse Is My Redemption“ zum Beispiel handelt davon, wie ich in der Schule eher ein Aussenseiter war und mir so meine eigene Welt erschaffen musste. Das war natürlich mitunter ein Punkt, der mich später dazu gebracht hat, Musik zu machen. Um mir diese Welt auszuschmücken und bunt anzumalen.
Und dann gibt es natürlich Themen, die mich zwar nicht persönlich betreffen, mich aber dennoch in den letzten Jahren beschäftigt haben. Gerade auch bedingt durch die Corona-Pandemie. Sehr viele gesellschaftliche Dinge, etwa wie die Menschen heute in der modernen Welt zusammenleben, sind da ans Licht gekommen. Dinge, die meiner Meinung nach beunruhigend sind. Dass sich viele Menschen offenbar wieder zu einem autoritären System hingezogen fühlen, ein starker Führer herbeigewünscht wird. Ich denke mir dann, das haben wir doch alles schon gehabt und wir wissen, dass es nicht gut war. „You Will Never Be Our God“ geht in diese Richtung. Es ist nicht so sehr religiös gedacht, obwohl gerade Religionen auch etwas Autoritäres an sich haben. Aber es spiegelt meiner Meinung nach sehr stark die aktuelle Situation in der Welt wider.
Das waren sowohl für Ambre, die ja auch einige Texte geschrieben hat, als auch für mich wichtige Punkte. In „Astèria“, dem letzten Song des Albums, geht es zum Beispiel um Kriegsflüchtlinge. Vor allem aus dem arabischen Raum, wo seit 50 Jahren Krieg herrscht. Also Israel, Palästina, jetzt Saudi-Arabien und Jemen, Syrien. Vor einigen Jahren haben wir in Deutschland, da wo ich herkomme [Bielefeld], sehr viele Kriegsflüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Das hat mein Bewusstsein zu diesem Thema geschärft. Es gibt dann immer viele, die reflexartig sagen, die wollen wir hier nicht haben. Aber man sollte sich auch mal in die Lage dieser Menschen versetzen. Wir haben einfach das Glück, in einem Land geboren zu sein, in dem keine solchen Zustände herrschen. Deshalb sollte man aus meiner Sicht Empathie für alle Menschen dieser Erde zeigen. Letztlich sind wir alle eins, wir sitzen alle im selben Boot. Ob Deutscher, Franzose, Russe … Wir sind alles Menschen und sollten versuchen, unsere Probleme auf dieser Welt gemeinsam zu lösen.
MI: Da kommt mir spontan der Song „Linien im Sand“ von Saltatio Mortis in den Sinn.
Marco: Ich kenne einige ihrer Texte und kann dir da nur zustimmen.
MI: Wie erwähnt, ist euer neues Album sehr abwechslungsreich, weswegen die nächste Frage nicht einfach zu beantworten sein dürfte: Welches ist dein Lieblingslied auf „The Wonders Still Awaiting“?
Marco: Das kann ich wirklich nicht beantworten. Das kommt immer auf den Tag und die Stimmung an. Und wegen der ganzen Vielfalt auch, wie ich mich gerade fühle. Das ist wie die Frage, auf welches Lied ich als Songwriter gerade besonders stolz bin. Das kann auf der einen Seite ein ganz einfaches Stück wie „My Curse Is My Redemption“ sein, das aber sehr auf den Punkt geschrieben ist und mich fast ein wenig an die Lieder der 80er oder 90er erinnert. An die Popsongs von Roxette oder Kim Wilde, die so auf den Punkt, so eingängig waren. Es ist ein schönes Gefühl, so etwas selbst geschaffen zu haben. Und auf der anderen Seite dann was so Komplexes wie „Two Worlds“ ganz am Anfang oder „Arèria“ ganz am Ende des Albums. Beide über sieben Minuten lang. Das sind ganz unterschiedliche Welten im Songwriting, die einen aber beide auf ihre Art glücklich machen.
MI: Eure Live-Feuertaufe in der neuen Besetzung hattet ihr ja bereits auf der Tour mit Visions Of Atlantis. Jetzt kommen die neuen Songs dazu. Wie fühlt es sich an?
Marco: Es ist schlicht wunderbar. Wir haben alle sehr hart und sehr lange an „The Wonders Still Awaiting“ gearbeitet, und jetzt ist es einfach schön, mit den anderen auf der Bühne zu stehen und zusammen mit den Fans zu feiern. Wir erhalten von den Leuten auch sehr viel tolles Feedback zum Album. Und wir spüren Abend für Abend, wie stark die Verbindung zum Publikum ist. Gerade mit den neuen Songs ist das ein grossartiges Gefühl.
MI: Das Publikum dürfte ziemlich durchmischt sein, mit Fans aller drei Bands (zur Konzert-Review). Wie empfindet ihr das?
Marco: Ich glaube, dass die Leute im Saal alle drei Bands sehr gerne mögen, gerade da zwischen allen dreien eine gewisse musikalische Verwandtschaft besteht. Und auch selbst mag ich die anderen beiden Bands sehr, sowohl musikalisch als auch persönlich! Es ist eine sehr schöne Kombination, gerade auch für die Fans!
MI: Spannend finde ich zudem, dass bei allen drei Bands die Sängerin den Platz einer populären Vorgängerin eingenommen hat. Sei es Ambre, Diana oder bei Fabi ihr Einstieg bei ihrer anderen Band Eluveitie. Wie wird Ambre bei von den Fans aufgenommen?
Marco: Natürlich gibt es immer Leute, die eine frühere Sängerin besser fanden. Das ist Geschmackssache und ganz normal. Und das kann man auch niemandem verübeln, schliesslich ist so etwas immer sehr stark mit Emotionen verbunden. Aber ich habe das Gefühl, dass die meisten uns mit unserer neuen Stimme sehr gut aufnehmen. Und bei allen anderen hoffe ich, dass sie uns ein offenes Ohr schenken.
MI: Als ich vorhin im Komplex 457 ankam, wart ihr gerade beim Soundcheck. Es klang sehr gut!
Marco: Vielen Dank! Beim Soundcheck spielten wir unser gesamtes Set durch, da unser Schlagzeuger Dimitrios uns wegen eines gesundheitlichen Notfalls in der Familie verlassen musste. Er ist nach Hause gefahren, um seiner Familie beizustehen und bei ihr zu sein. Was wir natürlich absolut verstehen können! Wir haben dann versucht, so schnell wie möglich einen Ersatz zu finden, und da ist Nico Vaeen von Annisokay kurzfristig eingesprungen. Er hatte zum Glück Zeit, musste sich aber innerhalb von 24 Stunden das ganze Set aneignen. Deshalb haben wir beim Soundcheck alles noch einmal komplett durchgespielt.
MI: Was war das Verückteste, das du mit Xandria erlebt hast?
Marco: Da gibt es natürlich so einiges. Highlights, wie als wir direkt nach dem zweiten Album in Südkorea gespielt haben. Etwas, das sich seitdem nicht wiederholt hat. Es war ein riesiges Festival am Strand, das Busan International Rock Festival [Xandria spielten dort am 6. August 2004]. Bei einer früheren Ausgabe traten dort sogar Nightwish auf, weswegen es eine besondere Ehre für uns war, dorthin eingeladen zu werden. Dann gab es so verrückte Sachen wie unsere Russland-Tour, die auch schon wieder über 15 Jahre zurückliegt. Da mussten wir im Hotelrestaurant spielen, weil das Wetter draussen einfach katastrophal war. Unter normalen Umständen hätte das Ganze im Garten auf so einer Art Bühne stattgefunden, was schon komisch genug gewesen wäre. Manchmal ist es wirklich sehr speziell. Man wird eingeladen, in einem anderen Land zu spielen, und dann sind die Bedingungen dort zuweilen ganz anders, als man sich das vorgestellt hat [lacht].
MI: Du bist nun schon sehr lange im Musikbusiness unterwegs – was hat sich aus deiner Sicht über die Jahre hinweg am meisten verändert, positiv wie negativ?
Marco: Generell im Musikgeschäft? Ich glaube, wir stecken gerade mitten in einer Entwicklung, dass alles in Richtung Streaming geht. Das hat zur Folge, dass die Promotion der einzelnen Songs immer mehr in den Vordergrund rückt und das Album etwas an Wert verliert. Ich persönlich hoffe, dass das nicht ganz so weit geht, weil ich das traditionelle Album nach wie vor für wichtig halte. Denn wir packen immer noch gerne Songs drauf, die auch mal etwas länger oder komplexer sein dürfen. Und die würden natürlich untergehen, wenn man sie nur als Single veröffentlicht. Da sie einem nicht direkt nach 15 Sekunden mit einer catchy Refrain-Melodie entgegenkommen. Das ist nicht die Musik, die ich ausschliesslich machen möchte. Musik, die genau darauf zugeschnitten ist, schnell ins Ohr zu gehen und sich in dreieinhalb Minuten zu verkaufen. Ich mache Musik, die von Herzen kommt, die auch mal etwas vielschichtiger sein darf. Die man erst entdecken muss. Und ich hoffe sehr, dass das nicht verloren geht. Denn auch im Metal merkt man in den letzten Jahren ganz deutlich, dass der Trend dahin geht, die Sachen auf dreieinhalb, vier Minuten zu kürzen. Vieles dreht sich heute in erster Linie um die Vermarktung, und dabei geht leider manchmal ein bisschen die Tiefe verloren. Aber ich hoffe sehr, dass es genug Metal-Fans da draussen gibt, die diese Substanz in der Musik noch zu schätzen wissen.
MI: Spannend, wie genau dieses Thema in letzter Zeit immer wieder in Interviews auftaucht, sei es mit Saltatio Mortis oder Jake E. von How We End. Dass das Album, wie wir es kennen, ein Auslaufmodell werden könnte. Aber was wäre die Musikwelt ohne ein „The Wall“ von Pink Floyd oder „Operation Mindcrime“ von Queensryche?
Marco: Ganz genau [lächelt].
MI: Wenn du 30 Jahre in der Zeit zurückreisen könntest, welchen Rat würdest du deinem jüngeren Ich geben?
Marco: Oh, das ist schwierig. Denn wer den Film „Butterfly Effect“ gesehen hat, weiss, dass so ein Versuch auch gehörig nach hinten losgehen kann [lacht]. Man will etwas verändern in der Hoffnung, dass es danach besser wird, dass man in Zukunft bessere Karten hat, man legt einen Schalter um … und dann entwickelt sich alles in eine Richtung, die man nicht vorhergesehen hat. Deshalb bin ich da sehr vorsichtig.
Ich glaube, ich habe in dieser Zeit viel gelernt. Natürlich hätte ich manche Dinge gerne schon früher gewusst, zum Beispiel wie man ein Instrument perfekt beherrscht. Aber ich konnte viele Erfahrungen sammeln und mich sowohl an der Gitarre als auch im Songwriting verbessern. Wenn man „The Wonders Still Awaiting“ mit unserem ersten Album vergleicht, dann liegen da Welten dazwischen. Aber klar, aus heutiger Sicht hätte ich das damals schon gerne gekonnt. Und ich wäre dankbar gewesen, mehr über das Musikbusiness zu wissen Einfach, um so manchen Fallstricken aus dem Weg zu gehen. Gerade am Anfang sind manche Dinge nicht so gelaufen, wie ich es mir gewünscht hätte, weil ich es nicht besser wusste oder einfach naiv war. Aber im Nachhinein ist man natürlich immer schlauer [schmunzelt].
MI: Danke für die Steilvorlage, die du mir mit „Butterfly Effect“ gegeben hast. Wenn du die Möglichkeit hättest, in der Neuverfilmung eines Kinohits mitzuspielen, welchen Film würdest du wählen und warum?
Marco: Ja, das passt, denn ich bin ein grosser Filmfan. Aber ich habe so viele Lieblingsstreifen, dass es wiederum schwierig wird. Mitte der 80er-Jahre gab es einen australischen Science-Fiction-Film namens „Quiet Earth“. Den fand ich sehr, sehr faszinierend [eifriges Nicken meinerseits]. Den könnte ich mir vorstellen. Ich glaube, wenn man ihn heute noch einmal machen würde, käme er vielleicht ein wenig wie „The Last Of Us“ daher. Einfach mit ein wenig mehr SciFi-Elementen. Wer den Film kennt, weiss, dass darin ein Netzwerk aufgebaut wird, ähnlich wie das Skynet bei Terminator. Und dass alles furchtbar schiefgeht. Ich bin ja ein grosser Fan von Science Fiction. Und soweit ich weiss, ist das ein Streifen, der nicht unbedingt einen grossen Bekanntheitsgrad hat. Insofern bin ich überrascht, dass du ihn kennst [lacht].
MI: Gleiche Generation, ähnliche Filmvorlieben [lächelt]. Letzte Frage: Hast du noch eine besondere Botschaft an eure Fans in der Schweiz?
Marco: Es war immer schön, in der Schweiz zu spielen. Wir sind ja auch schon des Öfteren im Z7 aufgetreten, und ich hoffe sehr, dass wir möglichst bald wieder hierhin zurückkehren können. Auch als Headliner, das wäre sehr schön. Ich wünsche allen, die das hier lesen, gut durch diese turbulenten Zeiten zu kommen. Und dass wir uns bewusst werden, dass wir alle Teil eines grossen Ganzen sind und uns gegenseitig helfen sollten. Denn ich glaube, dass wir dann gemeinsam viel erreichen können!
MI: Marco, ganz herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch!