Saltatio Mortis - Promobild 2023_Nadine_Volz (002)
Mi, 8. November 2023

Saltatio Mortis – Interview mit Alea und Jean

Deutschrock, Mittelalter Rock
16.11.2023
Saltatio Mortis - Promobild 2023_Nadine_Volz (002)

Eine Achterbahnfahrt im coolsten Sandkasten der Welt

Saltatio Mortis gastieren im Rahmen ihrer „Taugenichts“-Tournee am 2. Dezember 2023 im Zürcher X-TRA. Warum aber so kurz nach der tollen „Für immer frei“-Tour schon wieder zu einem SaMo-Konzert pilgern? Wir haben nachgefragt!

Im Gegensatz zu unserem letzten Interview Ende Januar im Zürcher Komplex 457 treffe ich Jean und Alea heute via Zoom. Wobei mir zu Beginn unseres Gesprächs erstmal nur Monsieur Méchant aus dem Monitor entgegenlächelt. Wie nicht anders erwartet, herrscht von Anfang an eine völlig entspannte Atmosphäre. Was keineswegs selbstverständlich ist, denn schliesslich und endlich starten die Jungs von Saltatio Mortis ab morgen ihre grosse „Taugenichts“-Tour, wie Jean zu berichten weiss … Ob sie die letzten Spätsommertage wohl auch so geniessen konnten wie ich?

Jean: Na ja, die Sonne zu geniessen, ist momentan etwas schwierig, weil wir in den vergangenen Wochen und Monaten teilweise bis in die Nacht hinein geprobt haben. Das ist, ich sag mal, schon ein wenig kurios! Schliesslich bin ich Musiker geworden, um nicht wirklich arbeiten zu müssen…

Metalinside.ch (Sandro) [lacht]: Das nenn ich dann mal grandios gescheitert! Und jetzt seid ihr ja gerade noch den letzten Tag in der Probehalle.

Jean: Genau, wir haben die abschliessenden Produktionsproben für die anstehende Tour gemacht. Man muss alles ausprobieren, um zu sehen, ob es auch wie angedacht funktioniert. Und natürlich geht dabei das eine oder andere schief.

MI: Ich bin ganz Ohr.

Jean [lacht leicht trocken]: Ich kann nur so viel sagen: Wir hatten gestern sieben (!) Stunden, in denen die gesamte Produktion stillstand, weil es einen technischen Defekt gab.

MI: Ihr habt in der Zeit aber sicher nicht Däumchen gedreht, oder?

Jean [schmunzelt]: Nee, alles andere erledigt, was irgendwie geht. Nur das eine, wofür man sich getroffen hat, das macht man dann halt nicht [lacht]. Aber das ist normal. Ich habe noch nie erlebt, dass alles glattläuft. Und wenn es jetzt klappt, geht es bei der Tournee schief. Also nehmen wir diese Schwierigkeiten lieber jetzt in Kauf, als dass wir uns später ne blutige Nase holen.

MI: Du meinst, wenn etwa ein gewisser Sänger während der Show sein Mikrofon verliert, das dann im Publikum gesucht werden muss [Jean schmunzelt]?

[Wie auf Stichwort erscheint Fronter Alea in der Verbindung]

Alea: Entschuldigt bitte, mein Rechner wollte kurz noch alle möglichen Updates runterziehen. Mit dem Ton funktioniert bei mir alles?

MI: Alles gut, sonst würden wir lächeln und winken. Und schön, bist du mit von der Partie! Ich habe mich bereits kurz mit Jean ausgetauscht. Aktuell seid ihr noch am Proben und morgen geht es dann in Berlin so richtig zur Sache! Wie darf man sich so diesen letzten Tag vor der Premiere vorstellen?

Alea: Ok, was steht alles an? Also [sehr enthusiastisch] … Wir sind hier in unserer Probehalle und haben gestern zum ersten Mal unseren kompletten Durchlauf gemacht. Sozusagen eine Generalprobe von allem, was wir uns für die Taugenichts-Tour vorgenommen haben. Natürlich gab es vereinzelt Dinge, wo wir nachbessern, die eine oder andere Stellschraube nachziehen müssen und so weiter. Aber genau dafür sind diese Proben ja da. Ausserdem haben wir dieses Mal einfach so viele Specials und abgefahrene Aktionen am Start, dass es gar nicht anders ging, als ausgiebig zu üben. Damit wir dann nicht einfach von Null auf Tausend an die Wand rasseln. Wir haben uns wirklich sehr schöne Sachen ausgedacht und ich glaube, wir können mit Fug und Recht behaupten, dass dies die grösste Show werden wird, die Saltatio Mortis je auf die Beine gestellt hat.

Jean: Ja, definitiv! Das wird mit Abstand die grösste Produktion, die wir je aufgezogen haben! [Zu Alea] Ich habe dem lieben Sandro gerade ganz kurz und in einem Nebensatz erklärt, dass wir gestern wegen eines technischen Defekts sieben Stunden Stillstand hatten. Aber es ist tatsächlich so: Während wir hier jetzt ganz entspannt miteinander reden können, sind natürlich die Techniker am Werk. Sie bauen ab. Tagelang wurde alles aufgebaut, optimiert, Bühnenelemente hin und her geschoben. Und jetzt geht es an den letzten Feinschliff. Es wurde bis spät in die Nacht gearbeitet, als wir schon Feierabend machen konnten. Was die jetzt genau machen, das würde zu weit führen. Das ist jetzt technisches Nerd-Wissen, das da draussen wahrscheinlich niemanden interessiert, ausser uns vielleicht. Da wird noch viel geschraubt, damit dann vom Ton bis zum Licht und so weiter alles zusammenpasst. Du kannst dir ja vorstellen, was es bedeutet, wenn da heute im 21. Jahrhundert irgendwelche Shows gebaut werden. Das läuft bei uns gerade im Hintergrund. Dann wird abgebaut, alles verladen in der Hoffnung, dass es in die LKWs passt, die wir haben [lacht]. Und dann geht’s heute Abend spät los, damit wir morgen ganz früh in Berlin beim ersten Showstopp ankommen. Und die Crew rechtzeitig alles wieder aufbauen kann, was sie jetzt dann mühsam demontiert.

MI: Darf ich fragen, wo sich euer Proberaum befindet, respektive wie weit es von da aus bis nach Berlin ist?

Jean: Es ist schon ein ganzes Stück. Unser Proberaum liegt im Ruhrgebiet – wo genau, möchte ich nicht verraten. Und da kommen wir alle ganz gut hin und auch wieder weg. Aber man muss dann schon ein paar Stunden mit dem Tourbus fahren, um am ersten Etappenort anzukommen.

MI: Ihr habt es bereits erwähnt – eure Fans erwartet die grösste Saltatio Mortis Live-Produktion aller Zeiten. Dennoch möchte ich folgende Frage in den Raum stellen: Warum sollten sie weniger als ein Jahr nach der fantastischen „Für immer Frei“-Tour wieder zu einer eurer Shows pilgern?

Jean: Weil erstens keine Show wie die andere ist! Ich glaube, ich habe selten eine Band gesehen, die zweimal hintereinander genau die gleiche Performance hinlegt – bei der wirklich jede Geste, jede Bewegung, jeder Song gleich daherkommt. Irgendetwas ist immer anders und das gilt insbesondere für uns, weil wir so viel Interaktion mit dem Publikum haben. Alea ist vorn am Bühnenrand wirklich am Machen, er arbeitet da wie ein Wahnsinniger und nimmt die Leute mit. Aber was wir diesmal auf die Beine gestellt haben, übertrifft wirklich alles, was Saltatio Mortis je gemacht hat. Und ich sage jetzt ganz unbescheiden, in dieser Form habe ich das auch noch von keiner anderen Band erlebt. Nicht in dem Masse, wie wir das jetzt geplant haben. Also wenn alles klappt – und da lehne ich mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster [Alea lacht laut] – wenn alles halbwegs so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben – und in unserem Kopf war es ja tierisch – dann wird am Ende dieser Show das Publikum rausgehen und sagen, das war krass, da gehen wir gerne wieder mal hin!

Alea: Und was man bei uns auch immer wieder sagen muss: Wir sind definitiv eine Band, die sich immer wieder neu erfindet. Denn… wir lieben das Leben. Jeder von uns ist ein Mensch, der das Leben in vollen Zügen geniessen und erleben möchte. Und dabei passiert so viel. Man nimmt so viele Eindrücke auf, welche die Geschichten, die man hört, die man erzählt, die man selbst erlebt, verändern. Und was wir dieses Mal auf der „Taugenichts“-Tour bieten, wird etwas komplett Neues und Frisches sein. Aber dennoch wird ein Teil von uns immer die kleine Spielmannsseele von damals bleiben. Wir lieben es, grosse Kinder zu sein, wir lieben es, zu spielen, und wir laden euch in unseren riesigen Sandkasten ein.

MI: Tönt klasse, ich freu mich riesig drauf! Was man in der „Mach dich Krass, Alea Edition“ auch sehen kann [Alea beginnt zu lachen] ist ja, dass gewisse Leute, wenn sie nicht auf Tour sind, etwas ausser Form geraten. Ernsthaft, wie haltet ihr euch fit, respektive wie bereitet ihr euch physisch auf diese Tour vor? Ich meine, ihr steht auf der Bühne ja nicht nur rum, ihr seid permanent in Bewegung.

Alea [lacht laut]: Also… ich glaube, jeder, der Jean und mich kennt, weiss, dass wir immer Sport machen. Das ist einfach ein fester Bestandteil unseres Lebens – und für mich sogar meiner Psyche! Ich möchte, ich will und ich muss Sport treiben. Und zwar aus verschiedenen Gründen, wobei der psychische Aspekt ganz klar im Vordergrund steht. Es hat aber auch etwas mit meinem Körper zu tun. Ich bin 45 Jahre alt und habe Lust, mich auch weiterhin so bewegen können, wie ich es möchte. Wenn ich ein paar Wochen krank bin und nichts mache, dann habe ich das Gefühl, wieder von vorn anfangen zu müssen. Ich war früher Leistungssportler, ich habe viel Akrobatik gemacht in meinem Leben. Da sind natürlich ein paar Sachen irgendwie in Mitleidenschaft gezogen worden. Aber wenn man sich, respektive seine Muskulatur fit hält, man immer wieder neue Reize setzt, immer wieder was Neues ausprobiert, dann hat man – glaube ich  – die Möglichkeit, diese ganzen Schwierigkeiten, die durch den Verschleiss so entstehen, komplett auszuhebeln. Einfach, weil die Muskulatur den Körper weiter trägt. Und man ist glücklicher. Also ich brauche das einfach [lacht].

MI: Was ich uneingeschränkt nachvollziehen kann! Welche Sportarten betreibst du konkret?

Alea: Bei mir steht klar Shaolin Kung Fu im Vordergrund. Zudem Tai Chi, das ich immer besser zu verstehen beginne. Als Jungspund habe ich nicht begriffen, was diese langsamen Bewegungen sollen. Plus aktuell noch der Chen Stil, der mich wahnsinnig fasziniert. Und zusätzlich natürlich ein bisschen Krafttraining. Unser Körper ist zum Laufen oder Gehen gemacht. Nicht unbedingt zum Joggen, aber zum Gehen. Er ist dazu prädestiniert, Gewichte zu bewegen und wenn wir ihm diese Reize nicht geben, dann lässt er uns mit aller Kraft spüren, dass ihm etwas fehlt. Und dann fängt auch der Kopf an durchzudrehen. Meine Theorie.

MI: Und bei dir, Jean?

Jean: Absolut, das sehe ich genauso wie Alea. Die Wissenschaft bestätigt das ja auch: Mach Krafttraining und du lebst länger und stirbst gesünder [lautes Lachen]. Ich meine, mir selbst macht das auch sehr viel Spass – die Bewegung, der Sport. Natürlich ist nicht jeder ein solches Phänomen wie unsere Alea, der fitter ist als manch 18-Jähriger und auch so aussieht. Mir persönlich reicht es, gesund zu bleiben. Das bisschen Sport hilft mir dabei. Das mit der Psyche kann ich auch unterschreiben. Ich habe schlechte Laune, wenn ich keine Zeit habe, mich zu bewegen. Wenn ich zu viel am Computer sitze, weil ich organisatorische Dinge erledigen muss. An solchen Tagen verbringt man einfach viel Zeit im Büro, und dann muss ich einfach raus! Und ich stemme gerne Gewichte, das macht mir Spass. Ich habe nicht den Anspruch, irgendwie wie ein Bodybuilder auszusehen. Mir geht es darum, etwas für meine Gesundheit zu tun, und das möchte ich bis ins hohe Alter schaffen. Und da gehört es für mich einfach dazu, mich jeden oder zumindest jeden zweiten Tag ein bisschen herauszufordern! Zu merken, dass das Leben nicht immer nur Ponyhof oder Kamillesitzbad ist. Sondern dass es auch mal anstrengend sein darf! Und es macht auch was mit dem Kopf!

Stichwort Resilienz – dass man einfach wieder lernt, Dinge auszuhalten, die unangenehm sind. Etwa ein Muskelbrennen oder dass da ein Gewicht auf mir lastet, das ich jetzt wegdrücken sollte. Und nein, es ist niemand da, der mir dabei hilft, ich muss es selbst bewegen. Aber nicht einfach ohne Sinn und Verstand, sondern auf eine gesunde Art und Weise. Ich komme ähnlich wie Alea aus dem Leistungssportbereich – zwar aus einer ganz anderen Ecke, aber da lernt man so etwas sehr früh und auf eine sehr sinnvolle Art und Weise. Es gibt sehr viele Kollegen in sehr vielen Gruppen – ob das nun Leute sind, die man persönlich kennt oder die man nur zufällig auf dem Weg kennengelernt hat – die machen alle ab einem gewissen Punkt richtig krass ihren Sport. Weil sie wissen, wie wichtig das ist. Wir könnten nicht zwei Stunden auf der Bühne Vollgas geben, wenn wir das nicht so durchziehen würden. Und das merkt man auch am Anfang einer Tour, dass es ein Weilchen dauert, bis der Fitnessapparat auf Touren kommt. Auch bei uns sind es zwei, drei, vier Shows, bis wir auf unserem Level sind. Aber dann läuft die Maschinerie wie geschmiert.

MI: Du hast Leistungssport angesprochen – welche Form?

Jean: Ich habe wie unser Gitarrist lange Handball gespielt und auch Kraftsport betrieben. So richtig im Sportverein, wo man das auch korrekt lernt.

MI: Morgen geht nun in Berlin eure Taugenichts-Tour los. Was mich zur Frage führt, ob es eigentlich Songs gibt, die ihr besonders gerne spielt, die einfach nie und nimmer aus dem Set rausfallen dürfen?

Jean: Auf jeden Fall, klar! Jede Band hat ihre Klassiker. Wir erheben natürlich nicht den Anspruch, uns jetzt mit Bands zu vergleichen, die weltweit riesige Hits haben. Aber auch wir haben in unserem Kosmos unsere Klassiker, die wir eigentlich immer spielen müssen, immer spielen wollen. Aber wir nehmen uns trotzdem die Freiheit, ab und zu Lieder komplett herauszunehmen, sie aus der Setlist zu streichen und nach einer Weile wieder aufzunehmen. Jahrelang hiess es, wir würden immer die gleichen Lieder spielen. Das war zu keiner Zeit der Fall! Und dann haben wir es eine Saison lang gemacht, wir haben *eine* Saison lang gesagt, wisst ihr was, ihr sagt sowieso immer, dass wir immer die gleichen Stücke spielen. Ich verstehe, woher das kommt: Nach 12, 13, 14 Alben, die eine Band gemacht hat, hat sich ein gewisser Grundstock an Songs angesammelt, die sogenannte Standards sind, die man immer spielen muss, weil die Leute dich sonst steinigen, wenn du sie nicht bringst. Die spielen immer „Prometheus“, jedes Mal kommt „Spielmannsschwur“ und „Wo sind die Clowns“ … Ja klar, doch was passiert, wenn wir es nicht tun? Aber wir versuchen schon, das aufzulockern. Wir haben jetzt Stücke in der Setliste, die wir eine Weile nicht mehr gespielt haben, dafür sind einige andere rausgefallen. Ich weiss nicht, wie Alea das sieht, aber wenn wir nach zwei, drei Shows merken würden, dass da etwas nicht funktioniert, dann würden wir das ändern.

Alea: Dann stellen wir um! Das ist ja das Schöne an uns, finde ich. Wir sind unglaublich flexibel. Womit wir wieder bei der Frage wären, warum man sich die Show jetzt anschauen sollte. Weil jedes Konzert ein anderer Cocktail aus Emotionen ist. Weil wir die Lieder anders zusammengestellt haben. Das ist so, wie wenn du bei einer Achterbahn die Inversionen änderst. Wenn du den Camelback nach vorne nimmst und die Schraube nach hinten. Dann fühlt sich das anders an, als wenn du vom Lifthill direkt in einen Looping ballerst. Ich liebe Achterbahnen [lacht]! Und auch ein schönes Bild, wie ich unsere Shows immer wahrnehme. Manchmal ist es so wie der Slingshot Coaster, der dich von null auf 120 ballert und am Ende…

Jean [unterbricht]: Und da muss man anmerken, dass das immer sehr stark vom Publikum abhängt. Bei einer Tournee ist natürlich jeder Einsatz geprobt, jeder Lichteffekt, einfach alles. Da gibt’s eine feste Setliste, die man allenfalls verändert, wenn Dinge nicht funktionieren. Man spielt die gleichen Lieder in Berlin, dann in Leipzig, in Wiesbaden und so weiter und so fort. Und irgendwann kommt man dann nach München und alle drehen durch, schon beim zweiten Lied und man denkt, was ist heute anders? Wir haben vor einiger Zeit in München gespielt, wo ich effektiv beim zweiten Song dachte, die reissen uns den Saal ab, was ist denn hier los? Und mit dieser Begeisterung spielt man als Band natürlich noch besser.

MI: Wenn ihr drei Lieblingssongs von Saltatio Mortis nennen müsstet, welche wären das?

Jean: Das ist eigentlich eine super interessante Frage. Ich weiss nicht, wie das bei anderen Bands ist, aber mir fällt es unheimlich schwer, das eigene Werk – sagen wir mal, das eigene œuvre – …

Alea [lacht auf]: Oh, was der für Wörter kennt …

Jean [schmunzelt]: … zu bewerten. Das klingt für mich immer so furchtbar unbescheiden. Wenn ich sage, ich finde dieses oder jenes Lied von uns toll, so fühlt sich das für mich immer fremd an. Ich bevorzuge da die Einschätzung von aussen. Aber für mich sind das oft Songs, die eine gewisse Eigendynamik entwickeln. Stücke, bei denen wir in ihrer Entstehungsphase, als wir sie im Studio eingespielt haben, nicht sofort wussten, was sie machen oder ob sie zünden könnten. Diese Art von Songs liebe ich am allermeisten. Ein Song, den wir zusammen raushauen, aber zunächst gar nicht so ernst nehmen. Und dann entwickelt der so eine enorme Eigendynamik. „Rattenfänger“ war so ein Stück oder auch „Mittelalter“, die beide eigentlich nur als Albumtracks gedacht waren. Und plötzlich passiert live was mit den Leuten, das du schlicht nicht vorhersehen konntest. Das finde ich super spannend. Also diese beiden Songs – und der dritte ist eigentlich immer das nächste neue Lied. Das letzte, das man gerade geschrieben hat. Wo man sich sagt, das möchte ich jetzt besonders gut präsentieren, weil es noch so frisch und neu ist. Wie eine neue Liebe, in die man sich gerade so ganz, ganz furchtbar verschossen hat.

MI: Bei dem ihr den Song praktisch neu erleben, neu in euch selbst aufnehmen könnt?

Alea: Genau! Das ist für mich immer eine spannende Sache. Einen Studiosong schreibst du ja mit einer gewissen Emotionalität, die dir wichtig ist, sonst würdest du das ja nicht machen. Wir entwickeln nur Dinge, auf die wir wirklich Lust haben oder wenn uns eine Idee dazu treibt. Und dann geht man auf die Bühne und interpretiert es jeden Abend neu, und das ist super spannend. Deswegen sind die neuen Songs, glaube ich, auch live so verlockend – weil man sich immer wieder darauf freut und sich fragt: Oh, wie wird das heute Abend ankommen?

Jean: Das Schwierige daran ist, dass da stets zwei Herzen in meiner Brust miteinander kämpfen. Einmal aus der Sicht des Fans – der ich ja auch von anderen Bands bin und nicht möchte, dass die an nem Konzert neue Songs spielen. Die sollen uns bitte die alten Klassiker vorsetzen, die ich so geil finde. Aber dann hast du halt auch den Kollegen von Metallica, der ein neues Album am Start hat und das promoten möchte. Und die haben Bock drauf, weil sie die anderen Sachen seit 40 Jahren spielen. Ja, wer bin ich denn, dass ich denen sage, sie sollen das bitte lassen? Eben, da kämpfen zwei Herzen miteinander, denn auf der einen Seite verstehe ich als Musiker, dass man sich künstlerisch immer wieder neu ausdrücken möchte – und das gönne ich ihnen von Herzen. Aber bitte spielt „Master of Puppets“ [Gelächter]. Jetzt habe ich dich aber schlimm unterbrochen, sorry.

Alea: Ach du, alles gut. Ich denke, meine aktuellen All-Time-Favoriten sind definitiv „Pray To The Hunter“ und „My Mother Told Me“. Die haben so ne Rohheit, die ich sehr mag. Aber auf der anderen Seite sind mir halt auch so lichtvolle Themen extrem wichtig, weil das einfach auch so ein bisschen meine Weltanschauung widerspiegelt. Wenn ich jetzt zum Beispiel „Heute Nacht“ nehme, dann ist das ein Lied, das mir mit jeder Faser sagt: Nutze dein Leben! Und das ist ein extrem wichtiges Thema für viele von uns. Wir wollen Geschichten erzählen – und den Leuten die Möglichkeit geben, sich darin wiederzufinden. Etwas so wie bei „Piano Man“ von Billy Joel. Geschichten von ganz normalen Menschen, die man in der Kneipe trifft. Aber eines haben sie gemeinsam: Wenn sie zusammen sind, dann geht es ihnen gut. Dann ist das Leben ein bunter Cocktail, und dann feiert man, als würde einem die Nacht ganz allein gehören.

MI: Wunderschön gesagt. Themenwechsel: Seid ihr nach über 20 Jahren vor einer Show eigentlich noch nervös, oder ist das mittlerweile alles Routine?

Jean [überlegt einen Moment]: Das hängt von der Show ab. Eine Grundnervosität ist immer vorhanden, die sich aber eher wie Vorfreude anfühlt. Und wenn ich mal nervös bin, dann nicht unseretwegen. Denn ich weiss, dass wir jede Show besoffen in den Schnee gepisst bekommen – sage ich jetzt einfach mal [beide lachen]. Ganz gleich, was wir machen, auch ohne Verstärker. Als wir letzthin auf Mallorca bei diesem Full Metal Holiday aufgetreten sind – nein liebe Kritiker, wir spielen immer noch nicht auf dem Ballermann – haben wir mittags am Pool rein instrumental gespielt, nur mit einer Trommel und ein paar Dudelsäcken bewaffnet. Auch unser Alea hier hat seinen Dudelsack wieder ausgepackt und mitgetan. Komplett ohne Netz und doppelten Boden, ohne technische Unterstützung. Nervös werde ich eher, wenn es um das Drumherum geht. Oder wenn musikalische Gäste auftreten, mit denen wir zum Beispiel mal ein Feature gemacht haben. Da denke ich immer, hoffentlich klappt das alles. Hoffentlich ist das Mikro an, hoffentlich schaffen die ihre Einsätze. Aber bei mir ist es wie gesagt eher ein „cool, endlich geht es los!“. Denn sobald die Show läuft, weiss ich, dass ich meinen Jungs voll und ganz vertrauen kann. Wir machen das zusammen und es wird immer irgendwie ineinander greifen – und gut werden. Da mache ich mir nie Sorgen!

MI: Wie ist das bei dir, Alea?

Alea: Ich bin vor einer Show eigentlich immer aufgeregt, und ich liebe das auch. Das soll so sein. Denn ich habe mal von meinem Vocal-Coach eingebläut bekommen: Lampenfieber ist das Geilste, was du fühlen kannst. Denn es zeigt dir, dass du Respekt vor der Bühne hast, dass du dankbar bist für das, was du da tust und dass du jeden wertschätzt, der gleich da vor der Bühne stehen wird. Und dass du alles tun wirst, damit es ein unvergesslicher Abend wird. Und er hat auch stets gesagt – was zwar hart, aber gleichzeitig halt auch grossartig ist – und wenn das aufhört, dann versprich mir, dass du es an den Nagel hängst!

Jean: Ja, wenn die Vorfreude nicht mehr da ist… Als ich als Jugendlicher angefangen habe, Musik zu machen und zum ersten Mal die Chance erhielt, in ner richtig guten Band zu spielen – nicht nur in einer Garagen- oder Kellergruppe, die man selbst gegründet hatte – da waren manchmal Kollegen dabei, die meinten „Oh Mist, am Wochenende ist wieder eine Gig“. Das fand ich ganz schlimm. Und ich möchte es auch nie erleben, dass es bei uns eines Tages so weit kommt, dass das Ganze nur noch ein Job ist, den man macht. Wo wir doch unsere eigene Musik auf Konzerten spielen und Platten aufnehmen können.

MI: Blicken wir kurz auf euer vorletztes Album „Brot und Spiele“ zurück, auf dem ja auch der Song „Grosse Träume“ zu finden ist. Auch wenn er wohl eher als Blick nach hinten zu verstehen ist – was für grosse Träume habt ihr selbst noch?

Alea [lacht]: So blöd das klingen mag, ich liebe den Film „Ray“. Wer Musiker ist oder Musikfilme mag, sollte den gesehen haben. Und darin sagt der wundervolle blinde Pianostar: „Wenn du in Pfennigen denkst, wirst du Pfennige erhalten. Wenn du klein denkst, wirst du niemals grosse Schritte tun.“ Und das habe ich mir irgendwie so in die Seele geschrieben. Denn diese Aussage dreht sich ja nicht ums Geld. Sondern es geht darum, wenn du sagst: „Jetzt spielen wir in dieser tollen Halle, das ist alles, was ich je erreichen wollte“ – [emotional] dann ist es vorbei! Wenn das in deinem Gehirn drin ist, ist es rum. Sagen wir mal so, ich habe schon richtig grosse Konzerte in Filmen gesehen, vom Wembley-Stadion, Donington, was weiss ich. Das sind grosse Shows, da will ich hin, das will ich erleben, verdammt noch mal! In einem geschlossenen Rahmen, wo den ganzen Tag über eine Geschichte erzählt wird und am Abend gibt’s noch eine Mega-Show für all die Leute, die kommen. Verrückte Ideen habe ich, haben wir alle zur Genüge und wir sind auch durchgeknallt genug, sie umzusetzen, da bin ich mir ganz sicher. Deshalb will ich mich in meinen Träumen auch gar nicht einschränken, sondern alles offen lassen. Ich freue mich auf alles, was da kommen mag.

Jean: Das Lied, das du angesprochen hast – „Grosse Träume“ – ist, wenn man es so durchliest, vielleicht ein wenig missverständlich. Da man denken könnte, wir geben uns mit dem bisher Erreichten zufrieden. So im Sinne von „Wir hatten damals grosse Träume, blicken nun auf unser Leben zurück und sagen: Mensch, war das schön“. Wir sind uns aber band-intern alle einig, dass wir noch lange nicht zurückblicken möchten – sondern ganz klar nach vorn. Das haben wir uns auch schon mehrfach in die Hand versprochen. Erst vor Kurzem und zuvor in der Corona-Zeit, als nicht klar war, wie es weitergehen soll. Und das mit dem „In Pfennigen denken“ finde ich ein super Bild! Hätten wir zum Beispiel vor vielen Jahren rein monetär gedacht, dann hätten wir alles, was wir bisher angepackt haben, anders gemacht. Dann hätten wir vor Jahren sagen können, nein sagen müssen: Komm, wir haben was erreicht, lass uns den Deckel drauf machen, fortan optimieren wir nur noch die Kosten, machen eine überschaubare Show …

Alea: Lassen jeden Song wie den letzten klingen …

Jean: … künftig machen wir nur noch musikalische Budgetverwaltung! Wir spielen unser Ding und jeder verdient sein Geld damit. Und ich sag dir, wir würden mehr einnehmen als jetzt. Weil das, was wir Idioten jedes Jahr aufs Neue machen – Klammer auf: unabhängig von all den Hatern, die uns immer sagen, ach ja, jetzt, wo die fette Kohle lockt, sind sie diese und jene Kooperation eingegangen – Bullshit! Wir Idioten stecken jedes Jahr mehr und mehr Geld in unsere Shows, damit wir den Leuten etwas bieten können. Damit sie wiederkommen. Und wir sparen immer zuerst an uns selbst, weil wir eben genau diese grossen Träume noch haben! Vor nicht allzu langer Zeit haben wir uns alle zusammengesetzt, auch mit unserem Management, und überlegt: Wo wollen wir hin, was wollen wir machen. Und es sprudelte nur so vor tollen Ideen. Wir sind noch so weit davon entfernt zu sagen, ach komm, jetzt haben wir alles erreicht … Ganz im Gegenteil! Von mir aus kann’s noch ganz lange weitergehen. Das sehe ich genauso wie Alea. Und wenn ich mit jemandem irgendwo ein spannendes Projekt machen oder mit meinen Kollegen packende Songs zu einem bestimmten Thema schreiben kann… Egal was es ist! Ich bin sofort dabei!

MI: Stichwort maximale Selbstausbeutung, was ihr das letzte Mal ja auch thematisiert habt [zum Interview].

Alea: Das ist auch so ne Sache, die man immer wieder betonen sollte. Jeder Musiker, der im Moment auf eigenen Beinen stehen, sich über die Musik finanzieren kann, betreibt nichts anderes als maximale Selbstausbeutung! Denn es ist leider nicht mehr so wie früher, als man sich nach ner Nr-1-Platzierung in Deutschland erst mal überlegen konnte, auf welche Insel man denn nun seine Villa stellen möchte.

Jean: Und jeder, der das heute noch behauptet, hat eine Wunschvorstellung oder ein verklärtes Bild aus den 80er- oder 90er-Jahren im Hinterkopf. Oder denkt, sie machen jetzt dies oder das, weil die grosse Kohle lockt. Welche Kohle denn? Hast du die letzten 30 Jahre unter einem Stein gelebt? Die Musikindustrie verdient kein Geld mehr! Das ganze Drumherum ja. Die Lieferanten, die Techniker, die Truckverleiher, die Promoter … – die alle verdienen Geld.

Alea: Was dann wieder zu der Diskussion führt, dass die Ticketpreise abermals teurer geworden sind. Nur: So ein Nightliner muss von A nach B fahren. Und das verbraucht Sprit. Die schlucken, wie wenn du die Spülung drückst. Und wenn man jetzt noch die gestiegenen Treibstoffpreise hinzunimmt, kann man schon mal eine ganze Menge hochrechnen [lacht leicht verzweifelt]. Aber es geht nun mal nicht anders. Der Tross muss auf die Strasse. Und es ist ja nicht nur dieser eine Nightliner, dieses Mal sind es zwei. Plus mehrere LKWs, ein riesiger Truck …

Jean: Ich unterbrech dich wirklich ungern, aber es sind diesmal sogar drei Nightliner …

Alea: Stimmt, ja genau! Das Ganze ist so verrückt.

MI: Ich könnte liebend gerne noch ewig mit euch reden, aber wir haben die angepeilte halbe Stunde leider schon etwas überschritten. Vielen Dank euch beiden für das wiederum spannende und informative Gespräch. Es hat sehr viel Spass gemacht. Ich wünsche euch eine ganz tolle Tour und wir sehen uns am 2. Dezember 2023 im X-TRA in Zürich!

16.11.2023
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