Energiegewitter im Dynamo
Lange war es her seit dem letzten Schweiz-Besuch von Fear Factory. Doch am 18. November hatten hiesige Metalheads endlich wieder die Möglichkeit, die Amerikaner im Zürcher Dynamo im Rahmen der «DisrupTour» live abzufeiern. Mit dabei im Paket? Butcher Babies, Ignea und Ghosts Of Atlantis.
Verzichten wir auf vorgängige Vorstellungen der Bands und kommen wir gleich zum Punkt. Es ist ein üblicher Spätherbstsonntag und später Nachmittag, als wir beim Jugendkulturhaus Dynamo in der Zürcher Innenstadt eintreffen. Bis am Vortag hatte ich mich darauf eingestellt, das Superpackage Ignea, Butcher Babies und Fear Factory bestaunen zu dürfen. Erst beim Nachschauen der genauen Spielzeiten stiess ich auf eine ominöse vierte Band, die den Abend eröffnen soll.
Ghosts Of Atlantis
Diese hört auf den Namen Ghosts Of Atlantis, und ich habe keinen Schimmer, was mich erwartet. Gespannt stehe ich vorne am Geländer, wo es noch grosszügig Platz hat, und beobachte die fünf Musiker beim Betreten der Bühne. Ihre Gewandungen und Gesichtsbemalungen lassen auf etwas in Richtung Industrial oder Death Metal schliessen. Schnell stellt sich heraus: Es geht deutlich in Richtung melodische Variante letzteren Subgenres. Wobei da auch noch viel Metalcore und auch Black und Industrial Metal zu finden sind. All das verarbeiten Ghosts Of Atlantis zu einem spannenden Mix, der jedoch Gefahr läuft, Fans der verarbeiteten Subgenres trotzdem nicht hundertprozentig zu überzeugen.
Das ist live jedoch zweitrangig! Die Songs versprühen eine packende Atmosphäre, welche die Briten problemlos in den Saal tragen können. Wir haben es hier definitiv mit einem qualitativ hochwertigen Opener zu tun, der den Job des Aufwärmens problemlos bestreitet. Zwischen grundsätzlich langsamen, aber mit schnellen Attacken gewürzten und anderen, per se schon schnellen Stellen wechselnd bietet der Auftritt von Ghosts Of Atlantis jede Menge Abwechslung. Dazu tragen auch die gesanglichen Wechsel zwischen Sänger Phil Primmer und Gitarrist Colin Parks bei. Zudem kreist in meinem Kopf weiterhin die Frage, wie ich den Stil im Bericht genau benennen werde.
Da mir auch Larry, die den Auftritt neben mir verfolgt, keine simple Antwort auf meine Frage liefern kann, und ich sowieso kurz beim Merchstand vorbei muss, frage ich den Herrn Primmer dort gleich selbst. Seine Antwort: Metalcore, Black Metal und Melodeath. Tja, demfall! Zudem erzählt er mir, dass sie sich über die zahlreichen Zuschauer gefreut hätten – auch wenn es in Tat und Wahrheit nur ein paar Dutzend Nasen waren. Doch an den vergangenen Daten hätten sie teilweise vor quasi leeren Locations spielen müssen, da sie erst eine Woche nach dem restlichen Package angekündigt wurden und dies – ja, nicht einmal angepasste Türöffnungen – von vielen Veranstaltern nicht mehr korrekt kommuniziert wurde. Win-win heute also für die Band und all jene, die es bereits jetzt ins Dynamo geschafft haben.
Setlist – Ghosts Of Atlantis
- The Curse Of Man
- Sacramental
- The Lycaon King
- False Prophet
- Lands Of Snow
Ignea
Mit einem nicht alltäglichen Genremix geht es dann auch bald weiter im Programm. Die Rede ist von Ignea, jener Band aus Kiew, die in ihren symphonisch geprägten Progressive Metal auch orientalische Elemente dazupackt. Während der Pandemie stiess ich per Zufall auf die Band und durfte sie dann 2022 am Brutal Assault zum ersten Mal live erleben. Zwar erfüllten sie dort meine Erwartungen nicht vollstens, doch bin ich voller Zuversicht, dass dies heute kein Problem werden sollte.
Um den Sound optimal zu geniessen, positioniere ich mich während der Pause etwas mittiger und weiter hinten. Zuvor am Geländer konnte von Soundgenuss nämlich wahrlich nicht die Rede sein. Eine gute Sicht habe ich von hier immer noch und siehe da: Als das mächtige Intro von «Dunes» erklingt, ist der Auftritt auch soundtechnisch schon fast auf einem akzeptablen Niveau. Innert Sekunden machen die Tontechniker zudem einen guten Job und bringen die Regler auf eine zufriedenstellende Position. So kommen Sängerin Helle Bohdanovas erste Growls erst noch etwas zögerlich an, doch kaum setzt sie mit ihrem Klargesang ein, erreichen uns alle Spuren ausgewogen. Lediglich die Cymbals bleiben bis zum Ende des Auftritts etwas gar laut, doch mich als Schlagzeuger dürfte dies weniger stören als andere Besucher.
Der als Einstieg gewählte Song des aktuellen Albums «Dreams Of Lands Unseen» packt dann auch schon erste orientalische und elektronische Elemente in den exotischen Mix und repräsentiert den Sound der Ukrainer relativ gut. Schlag auf Schlag geht es weiter mit zwei weiteren Songs der 2023er-Scheibe. Mist, hätte ich die nach dem Release nur mal ein bisschen genauer unter die Lupe genommen. Doch auch ohne mit den Songs allzu vertraut zu sein, macht das Gezeigte viel Spass. Gerade im Vergleich zum Auftritt in Tschechien hat die Band einiges an Live-Qualitäten dazugewonnen. Die Musiker verhalten sich lange nicht mehr gleich statisch wie damals. Exemplarisch dafür steht wohl Tastenmann Evgeny Zhytnyuks Keytar, welche das damals genutzte Keyboard ersetzt und für viel mehr Bewegungsfreiheit sorgt.
Auf zwei Tracks der EP «Bestia» folgen dann noch zwei weitere Songs von «Dreams Of Land Unseen», welche jeweils mit einer kurzen anekdotischen Ansage eingeleitet werden. Abgeschlossen wird der Auftritt mit dem Aushängeschild «Leviathan». Wer wie ich noch auf «Jinnslammer» oder andere Glanzwerke von «The Realms Of Fire And Death» hofft, wird implizit auf künftige Auftritte vertröstet. Das ist dann aber auch das einzige “Manko” eines ansonsten sehr überzeugenden Gigs!
Setlist – Ignea
- Dunes
- Camera Obscura
- Далекі Обрії
- Bosorkun
- Magura’s Last Kiss
- To No One I Owe
- Nomad’s Luck
- Leviathan
Butcher Babies
Wer kennt sie nicht, die beiden Energiebündel Heidi Shepherd und Carla Harvey, welche als Gesangsduo die Visitenkarte der Butcher Babies darstellen? Umso mehr staune ich, als die drei Herren Chase Brickenden (Schlagzeug), Henry Flury (Gitarre) und Ricky Bonazza (Bass) die Bühne betreten, dicht gefolgt von Heidi und… Carla schlicht nicht auftaucht. Hä, hat sich die Band still und heimlich von einer der beiden Sängerinnen getrennt?
Gegen Mitte des Sets löst Heidi die Fragezeichen, welche hoffentlich nicht nur durch meinen Kopf fliegen, endlich auf: Carla kann aufgrund einer Augenoperation auf der aktuellen Tour leider nicht dabei sein. Phu, wenigstens ist das nur ein temporärer Zustand. Nicht dass Heidi das Kind nicht alleine schaukeln könnte… Im Gegenteil! Die Blondine nutzt den zusätzlich zur Verfügung stehenden Raum optimal aus und spickt wie ein Gummiball von einem Ende der Bühne zum anderen. Mehr als nur einmal gibt es dabei Fast-Zusammenstösse mit Basser Ricky, der mindestens genauso viel Auslauf bedarf wie seine Vokalistin.
Die Zeile “can’t stop moving no you can’t stop moving” aus dem bereits an dritter Stelle gespielten «Monsters Ball» entpuppt sich dann auch heute als Motto für den gesamten Auftritt. Und zwar nicht nur für die Band, sondern auch für das Publikum. So gibt es mittig vor der Bühne bis zum Ende kein Halten mehr. Dass dies nicht besonders verblüffend ist, weiss jeder, der den Butcher Babies schon einmal beiwohnte. Die Band und allen voran Heidi verstehen es optimal, das Publikum auf weit mehr als nur Betriebstemperatur zu bringen. Ich habe sogar den Eindruck, die Songs seien auch genau darauf ausgelegt geschrieben worden. Wenn sich dann auch noch jeder der Musiker – ausser dem Drummer natürlich – ab und an in den Graben und Heidi sogar in den Pit verirrt, sind derartige Eskapaden alles andere als befremdlich.
So wird gemeinsam rumgehüpft, mitgegrölt, gemosht und geheadbangt, bis die US-Amerikaner sich verabschieden. Ja, die Butcher Babies haben die Messlatte sehr hoch angesetzt und Fear Factory müssen mächtig nachlegen, wollen sie nicht die Ruhe nach dem Sturm sein…
Setlist – Butcher Babies
- Backstreets Of Tennessee
- Red Thunder
- Monsters Ball
- King Pin
- Wrong End of The Knife
- It’s Killin’ Time, Baby!
- Beaver Cage
- Spittin’ Teef
- Last December
- Magnolia Blvd.
Fear Factory
Wir sind also mehr als gespannt auf die Oldies im heutigen Line Up – Fear Factory wurden vor über dreissig Jahren gegründet, während die anderen drei Bands nicht einmal gemeinsam auf eine so lange Geschichte zurückblicken können. Doch wer steht heute überhaupt auf der Bühne? Die Band durchlebte ja so einige Wechsel in ihrem Line-Up und gerade die Bandgeschichte der letzten fünf bis sieben Jahre verlief alles andere als ruhig. Stattdessen war sie geprägt von rechtlichen Auseinandersetzungen und teilweise widerrufenen Statements verschiedenster (Ex-)Mitglieder. Die einzige verbleibende Konstante in der Besetzung bleibt Gitarrist Dino Cazares, der die Band mitgründete und nach einer mehrjährigen Pause in den Nullerjahren seit 2009 wieder fix für die Klampfe zuständig ist. Begleitet wird der Factory-Veteran von Pete Webber am Schlagzeug, Tony Campos am Bass und dem erst vor einem halben Jahr dazugestossenen Milo Silvestro am Gesang.
Letzterer erweist sich dann als respektable Überraschung des Abends. Im Vorfeld hatte ich befürchtet, der Ersatz des langjährigen Vokalisten Burton C. Bell könnte die verschiedenartigen, für die Band so charakteristischen Vocals nur bedingt rüberbringen. Doch weit gefehlt! Egal ob es um rhythmische Shouts oder melancholischen, langgezogenen Klargesang geht: Signore Silvestro lässt mich Mister Bell (den ich, zugegeben, nur vor zehn Jahren einmal live sah und ansonsten auch nur ab Konserve kenne) kein einziges Mal vermissen. Der fast schon hypnotisierende, vor Groove nur so strotzende und von Nu Metal sowie Djent angehauchte Industrial Metal der Kalifornier kann also in seiner vollen Gewalt durch die Boxen raus ins Publikum gedrückt werden. Yippie!
Songtechnisch führen Fear Factory uns durch ihre lange Bandgeschichte und legen dabei den Fokus doch ziemlich pointiert auf die beiden Neunzigerjahre-Alben «Obsolete» und «Demanufacture». Mein persönlicher Höhepunkt – was Songs anbelangt – ist bereits früh erreicht, als das vergleichsweise neue «Disruptor» und mein Liebling «Powershifter» gleich nacheinander an fünfter und sechster Stelle gespielt werden. Alles ab jetzt ist sozusagen ein Bonus! Und dieser hat es in sich, spielen sich die Amis doch während ganzen 17 Songs ins Nirvana.
Vor der Bühne goutieren die Besucher das Songfeuerwerk übrigens mit jeder Menge Pits und purer Eskalation. Inwiefern da jetzt das intensive Warm-Up vor allem durch die Butcher Babies reinspielt und ob Fear Factory mit einer tieferen Ausgangstemperatur ebenfalls derartige Madness erreicht hätten, ist nur schwer zu beurteilen. Fest steht: Das Publikum geht mindestens gleich wild ab wie noch zuvor bei den ebenfalls aus Los Angeles stammenden Kollegen. Und was die musikalische Performance angeht, schaffen es Fear Factory, noch mindestens einen Gang höher zu schalten! Mit «Resurrection» schliessen die Herren dann nicht nur ihren eigenen Auftritt, sondern einen durch und durch superben Abend ab.
Setlist – Fear Factory
- Shock
- Edgecrusher
- Recharger
- Dielectric
- Disruptor
- Powershifter
- Freedom Or Fire
- Descent
- Linchpin
- What Will Become
- Slave Labor
- Archetype
- Martyr
- Demanufacture
- Zero Signal
- Replica
- Resurrection
Das Fanzit – Fear Factory, Butcher Babies, Ignea, Ghosts Of Atlantis
Ich hatte vom heutigen Abend viel erwartet (und im Vorbericht “groovigen Metal und den einen oder anderen Moshpit” prognostiziert), aber das heute Gezeigte hat mich trotzdem überrascht! Schon Ghosts Of Atlantis haben den Abend mit ihrem spannenden Genremix würdig eröffnet. Unkonventionell ging es mit Ignea weiter, welche mich heute weit mehr zu überzeugen vermochten als noch im August 2022. Die Butcher Babies bewiesen, dass sie auch ohne Carla Harvey eine gewaltige Party auslösen können und heizten im Dynamo mächtig ein. Den absoluten Höhepunkt brachten dann aber Fear Factory über die Limmatstadt. Auch mit (oder vielleicht wegen) frischem Sänger sorgten sie für einen fulminanten Hauptteil des Konzertabends. Dieser erwies sich dann in Gesamtheit betrachtet als Energiegewitter sondergleichen!