Wenn das Sandmännchen Träume wahr macht
Oder wenn man denkt, alles schon gesehen zu haben und dann eine Band erlebt, als hätten sie grad den Rock n’ Roll erfunden: The Warning.
Das Märchen beginnt
Es waren einmal die drei Schwestern Daniela «Dany» (* 30. Januar 2000), Paulina «Pau» (* 5. Februar 2002) und Alejandra «Ale» (* 13. Dezember 2004), die die Liebe zur Musik am Piano entdeckten. Doch so richtig glücklich wurden sie erst, als sie Gitarre und Schlagzeug erhielten und eine Rockband gründeten. Die damals 9-jährige Ale wollte jedoch nicht nur zuschauen, sondern auch mitmachen. So wurde auch das letzte Puzzleteil eingesetzt: Der Bass.
Was macht die Mädels-Band, die von einer Rockkarriere träumt? Genau, sie covert die grösste Metal-Band aller Zeiten (nebst anderen Grössen des Rock und Metal) mit einem der populärsten Songs: «Enter Sandman» und postet diesen auf YouTube. Das Video der süssen mexikanischen Mädchen ging durch die Decke – oder neudeutsch viral. Die grossen Ami-Fernsehstationen wollten entsprechend auf dieser Welle mitreiten und so wurden sie im April 2015 in die Sendung der US-amerikanischen Moderatorin Ellen DeGeneres eingeladen (siehe Video). Dabei wurden sie alle mit einem Check über je USD 10’000 für ein Sommerstudium am Berklee College of Music in Boston eingeladen. Die Geschichte nahm ihren Lauf.
Raus aus dem Bandraum
Es folgten Auftritte mit Bands wie Def Leppard und eine erste grössere Nordamerika-Tour war für 2020 geplant. Das C-Virus hat den kometenhaften Aufstieg der Villarreal- Sisters zwar etwas gebremst und die Tour musste verschoben werden, jedoch keine vier Jahre später sind sie jetzt als Headliner unterwegs in Europa. Nesthäkchen Ale ist dabei noch keine 20 Jahre alt.
Sie haben bereits drei Alben mit eigenen Songs veröffentlicht – und Album Nr. 4 , welches im Juni 2024 erscheinen wird (Vorbestellen), steht auch schon am Start. Ihr Stil entspricht einem rifforientierten Hardrock mit komplexen Basslinien, welche grad live dafür sorgen, dass auch mit nur einer Gitarre genügend Wumms und Melodie während den Soli vorhanden ist.
So, das wäre mal die Ausgangslage. Offen gesagt wusste ich vor dem heutigen Abend noch weniger, als da oben steht. Wir sind mit Metalinside.ch als Medienpartner angefragt worden und so dachte ich mir, schauen wir doch mal vorbei. Denn nach dutti’schem Gesetz gilt: Horizonterweiterung tut immer gut. So bin ich heute eigentlich komplett ohne Erwartungen da – mir war nicht mal mehr bewusst, dass ich damals diese Covers der noch sehr jungen Mexikanerinnen auch abgefeiert habe. Im Nachhinein schon cool, wenn man so 1:1 erlebt, wie eine Band die grossen Bühnen dieser Welt erklimmt. So zusagen live deren ersten Schritte im Proberaum und dann erste Auftritte. Man kann über die Entwicklung in der Musikindustrie schimpfen wie man will, aber es hat alles immer auch seine guten Seiten. Und dieses YouTube-Phänomen zähle ich persönlich absolut dazu. Wo wären die Schwestern heute, wenn das Video damals nicht viral gegangen wäre? Wir wissen es nicht und werden es auch nie erfahren, aber Fakt ist, YouTube hat ihnen den Aufstieg definitiv geboostet (siehe auch hier ein toller Zusammenschnitt über den Weg der Band). Schon spannend wie sich die Mädels – grad Ale – über die Jahre auch körperlich entwickeln und immer selbstbewusster auftreten sowie ihren eigenen Stil und ihre Moves festigen).
Doch bevor es mit The Warning losgeht, steht noch eine andere Mädelsband am Start – von der ich schlichtweg noch gar nichts gehört habe …
Conquer Divide
Kollege Svene meint kurz vor deren Auftritt, dass die mir sogar noch besser als der Headliner gefallen könnten, da auch fette Growls eingestreut werden und frau grundsätzlich härter unterwegs sei . Gemäss Wikipedia «spielt die Gruppe eine Variante des Post-Hardcore, welcher mal mit harten Gitarrenriffs und poppigen Sing-a-longs trumpft.» Und ja, sowas in der Art liefern sie auch sehr engagiert ab. Die eine Sängerin ist anfangs poppig unterwegs, während die andere, paradoxerweise eher mädchenhafte Sängerin mit ihren blonden Zöpfen und den Grüebli in den Backen kurze Zeit später die ersten fetten Growls in die Freitagnacht rausschreit. Hopple der Dolendeckel, da kommt in der Tat scharfes Geschütz aufgefahren.
Der Auftritt bleibt kurzweilig und ist ein definitiv starker Opener für den Headliner. Mir bleibt jetzt nicht grad ein spezifischer Song oder Moment von Conquer Divide hängen, aber vielleicht weil die gesamte Darbietung an und für sich stimmig war und sich nicht auf wenige Höhepunkte beschränkte. Somit in diesem Rahmen oder auch mal ein paar Stockwerke weiter unten im Werk 21 gerne wieder. Denn ich glaub, deren Sound würde sich grad im kleineren Club-Rahmen auf noch mehr Publikumsbeteiligung auswirken. Es war heute zudem nicht wirklich 100% das Publikum für diese Art von Musik da (dazu gleich mehr).
The Warning
Und so gehts los mit dem YouTube-Phänomen, welches definitiv keine Eintagsfliege geboren hat, sondern über scheinbar unendlichem Talent, elterlicher Unterstützung und einem klaren Traum , wo die Reise hingehen soll, eine Rockband, die noch ganz, ganz gross werden kann. Das spürt man vom ersten Ton an grad von der vermeintlichen Rhythmusfraktion – den Drums und dem Bass. Doch bevor die Gitarre wie gewohnt allen die Show stehlen darf, zeigen die erstgenannten umgehend: das ist eine Band, die aus einer gleichwertigen Instrumentengewichtung besteht. Selbst der Lead-Gesang wird zwischen Dany (Gitarre) und Pau (Schlagzeug) geteilt.
Bekanntlich bin ich dem Bass und deren Protagonisten sehr zugetan. Ale fasziniert mit ihren komplexen Basslinien, die jedoch nie ins progressive überborden, sondern songdienlich sind, und ihrer Coolness, der Leichtigkeit, mit der sie spielt und mit sehr coolen Moves, die aus den 70ern stammen könnten, heute bestimmt nicht nur mich. Pau fasziniert ebenso nicht nur durch ihr gekonntes Schlagzeugspiel, sondern auch mit ganz eigenen Moves und einer Spur Crazyness – ihre irren Blicke erinnern teilweise an eine Fernanda Lira von Crypta oder vielleicht noch mehr an Arejay Hale von Halestorm.
Und da wäre dann noch die mit 24 Jahren älteste des Sister Acts: Dany. Sie erinnert schliesslich stark an Lzzy Hale von … genau Halestorm. Es liegt auch auf der Hand, dass Vergleiche mit der anderen Geschwister-Rockband gemacht werden. Soundmässig ist man schliesslich in ähnlichen Gewässern unterwegs. Ich fand Halestorm immer sehr cool, doch The Warning packen mich über das ganze Konzert noch ein bisschen mehr. Gut, sie haben auch eine Schwester mehr am Start und die ist für mich der heimliche Star – genau Ale. Die es schafft, ohne grosse Mimik und mit eher nur Backing Vocals, den Vibe des Rock n’ Rolls aus den letzten 70 Jahren in einer Person zu vereinen. Ihre Moves und ihr Spiel sowie einfach der ganze Look fesseln die Besucher – oder zumindest mich. Wie ein Cliff Burton während den ersten Jahren von Metallica.
Da The Warning über Covers mit Videos aus ihrem Bandraum bekannt wurden – der übrigens über die Jahre immer gleich aussieht, während sich die Protagnisten von schüchternen Mädchen zu selbstbewussten Frauen wandeln – neigt man automatisch zu Vergleichen mit ihren grossen Idolen. Doch was mich heute wohl am meisten überrascht, ist, wie einzigartig ich die Band von Anfang an wahrnehme. Auch wenn ich Ale besonders hervorhebe – liegt wohl definitiv an meiner Liebe zu den fetten Saiten – so sind es alle drei, die begeistern. Jede allein für sich hat ganz ihren eigenen Stil und dennoch mögen sie auch als Band überzeugen, die schon unglaublich routiniert spielt und harmoniert. Das ist schlussendlich natürlich nachvollziehbar, wenn man wortwörtlich im Kinderzimmer schon zusammengespielt hat. Man hat jedoch nie das Gefühl, eine «Cover»- oder Tribute-Band zu erleben.
Ich denke, man kann aus meinen Zeilen rauslesen – eigentlich wollte ich gar nicht gross was schreiben und nur ein paar Fotos liefern – wie begeistert ich von The Warning bin. Soundmässig, Songwriting, Auftreten, Look, Sympathie … bei allem gibt es einen fetten (oder bei mir eher langen und krummen) Daumen nach oben. Es ist schlicht überragend und ohne einen kleinen Hänger oder eine Panne oder sonst irgendwas Negatives, das hängenbleibt.
Das Einzige, was mich etwas irritiert, ist das Publikum. Ich hatte im Voraus noch gesagt, das wird wohl eine Teenie-Geschichte … und so war ich überrascht, als wir in den Saal des Dynamos reinkamen, dass es kaum Teenies hatte. Im Gegenteil – graue Männerhaare ist die dominante Kopfhautbedeckung. Was bei mir doch ein paar Fragezeichen auslöst, auf die ich hier nicht weiter eingehen will. Schlussendlich mag ich es den Mädels gönnen, dass ihr erstes (?) Schweizer Konzert ausverkauft ist. Honi soit qui mal y pense.
Das Fanzit – The Warning, Conquer Divide
Ich erlebte einen sehr kurzweiligen Abend mit toller Begleitung (man munkelt, dass pam heute mit Doro vor Ort war…) und ebenso tollen Bekanntschaften, mit denen man nach dem Konzert noch im Mata Hari landet. Conquer Divide waren ein toller Opener, wenn sie auch mit einem anderen Line-up und in einer noch kleineren Venue etwas mehr hätten ausrichten können.
The Warning könnte man auch als AI-Experiment ansehen: «Chat-GPT, bitte stelle mir die perfekte Rock n’ Roll Band mit allen relevanten Ingredienzien wie Songs, Look, Ausstrahlung, individuelle Protagonisten und mit viel Talent gesegnet zusammen.» Herausgekommen ist das, was wir heute live erlebt haben. Und das sehr real.
Übrigens, wer The Warning in der Schweiz verpasst hat und jetzt gluschtig wurde, der erhält in diesem Jahr am 3. August am Open Air Gränichen nochmals eine Chance dazu.