Klangbild der Seele
Sie war das Aushängeschild von Delain, für viele sogar der Inbegriff der Symphonic-Metaller schlechthin. Nun steht Charlotte Wessels im Zentrum ihres eigenen musikalischen Kosmos (mehr dazu in unserem Interview). Mit „The Obsession“ beweist die Niederländerin eindrucksvoll, dass sie weit mehr ist als nur die Stimme einer Band. Ihr Solodebüt ist intim, ehrlich und geht tief unter die Haut.
Den Grundstein für ihre Solokarriere legte Charlotte bereits mit den beiden Compilation-Alben „Tales From Six Feet Under, Vol. I & II“. Die Songs, die zunächst exklusiv ihrer Patreon-Community vorbehalten waren, wurden in den Jahren 2021 und 2022 auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Miss Wessels produzierte die Scheiben komplett in Eigenregie in ihrem Six Feet Under Studio (daher der vielleicht etwas ungewöhnliche Name), wobei sie alle Instrumente selbst einspielte oder programmierte. Mit über 50’000 monatlichen Spotify-Hörern und über 100’000 Instagram-Followern hat sie sich eine treue Fangemeinde aufgebaut – und mit „The Obsession“ führt sie diesen Weg nun konsequent weiter.
Ein musikalisches Kaleidoskop …
Im Gegensatz zu den beiden „Tales From“-Alben, bei denen die Sängerin noch auf der Suche nach ihrer musikalischen Identität zu sein schien, präsentiert sich ihr aktuelles Werk deutlich kraftvoller und härter. Es ist rauer, aggressiver und komplexer als seine Vorgänger, ohne jedoch diese spielerische Leichtigkeit zu verlieren, die bereits auf den früheren Scheiben zu hören war. Hervorzuheben ist zudem die bemerkenswerte musikalische Bandbreite, die „The Obsession“ zu bieten hat. Vom melancholischen Opener „Chasing Sunsets“ über die episch berauschende, aber keineswegs sanfte Ballade „The Crying Room“ bis hin zum mitreissenden, von einem kraftvollen Gospelchor getragenen „Praise“ – Miss „We Are The Others“ beweist hier eindrucksvoll die Vielseitigkeit ihres künstlerischen Könnens.
Allenfalls dürfte der Anfang von „Serpentine“ für meinen Geschmack noch nen Tick beherzter aus den Startlöchern kommen, und auch „Vigor And Valor“ bleibt trotz progressiver Elemente in meinen Ohren hier und da etwas blass. Dafür überzeugt „All You Are“ mit einer erhabenen Geschmeidigkeit, die mich an Illumishade erinnert.
Besondere Aufmerksamkeit gebührt natürlich den beiden Duetten, die auf der Platte verewigt wurden. Zum einen „Dopamine“, bei dem Simone Simons (Epica) mit ihrem engelsgleichen Gesang zu verzaubern weiss (das dazugehörige Video ist absolut sehenswert), zum anderen „Ode To The West Wind“, in welchem Alissa White-Gluz (Arch Enemy) mit ihren kehligen Einwürfen einen erfrischenden Kontrast bildet. Doch so beeindruckend diese beiden Kollaborationen auch klingen, das unbestrittene Highlight des Silberlings ist für mich ganz klar „Soft Revolution“. Diese Neuinterpretation des 2021er-Fanlieblings entwickelt sich mit seinen quirligen Synthie-Klängen und dem eingängigen Refrain zu einem echten Ohrwurm, einem Melodienzauber der Extraklasse! Mit knapp sieben Minuten ist es der längste Track des Albums – und jede Sekunde davon ist ein Genuss!
… mit Texten, die berühren
Das wahre Herzstück von „The Obsession“ sind indes die Texte, in denen Charlotte mutig und offen von ihrem Kampf mit inneren Dämonen erzählt. Themen wie Angst, Zwangsgedanken und Eskapismus ziehen sich durch das Album und finden in Songs wie „The Exorcism“, „The Crying Room“ und „Ode To The West Wind“ eine kraftvolle, klangliche Entsprechung. Doch selbst inmitten dieser düsteren Landschaft strahlt immer wieder Hoffnung und Zuversicht hervor, insbesondere in „Praise“.
Für ihr Solo-Debut arbeitete das niederländische Goldkehlchen von Beginn an mit ihren ehemaligen Delain-Kameraden Timo Somers (Gitarre), Otto Schimmelpenninck van der Oije (Bass) und Joey Marin de Boer (Schlagzeug) zusammen. Ergänzt durch Sophia Vernikov am Klavier und fesselnde Arrangements von Vikram Shankar sowie Elianne Anemaat am Cello, erhält die Scheibe einen härteren und lebendigeren Sound.
Gemischt von Guido Aalbers (Muse, Coldplay, Live, Queens Of The Stone Age, The Gathering) und gemastert von Andy VanDette (bekannt für seine Arbeit mit Porcupine Tree, Deep Purple, Dream Theater und vielen anderen), überzeugt das Werk denn auch durch seine hochwertige Produktion und verleiht ihm eine Art zeitlose Note.
Das Fanzit Charlotte Wessels – The Obsession
„The Obsession“ ist ein Album, das tief berührt, inspiriert und zum Nachdenken anregt. Auf ihrem Solodebüt entfaltet Charlotte Wessels ein vielschichtiges Klangbild, in dem sich helle und dunkle, laute und leise sowie zarte und bittere Elemente lebendig abwechseln. Dieses Werk markiert einen bedeutenden Meilenstein in der Karriere der charismatischen Künstlerin und unterstreicht eindrucksvoll, dass sie zu den herausragenden Sängerinnen und Songwriterinnen der Szene gehört.
Während ihre früheren Weggefährten von Delain mit ihrer neuen Sängerin Diana Leah gerade ihr eigenes musikalisches Märchen spinnen – eine Geschichte, die wir gespannt weiterverfolgen werden – stehen die Zeichen für Charlotte Wessels‘ Solokarriere klar auf Erfolg. Das Album verdient sich hammermässig-veträumte 8.5 Horns, mit deutlicher Tendenz nach oben.
Anspieltipps: Chasing Sunsets, Dopamine, Praise, Soft Revolution
Die Trackliste Charlotte Wessels – The Obsession
- Chasing Sunsets
- Dopamine
- The Exorcism
- Soulstice
- The Crying Room
- Ode To The West Wind
- Serpentine
- Praise
- All You Are
- Vigor And Valor
- Breathe;
- Soft Revolution (2024)
Das Line-up – Charlotte Wessels
- Charlotte Wessels – Vovals
- Timo Somers – Gitarre
- Otto Schimmelpenninck van der Oije – Bass
- Joey Marin de Boer – Drums
- Sophia Vernikov – Klavier / Hammond
- Vikram Shankar – Arrangement
- Elianne Anemaat – Cello
- Simone Simons – Vocals auf „Dopamine“
- Alissa White-Gluz Vocals auf „Ode To The West Wind“