Bier, Gras und Fliegen
Am 11. Oktober 2024 startet Jom Kippur – das zweitägige Friedensfest der Juden. Am selben Tag proklamieren auf der Bühne im Z7 Dritte Wahl „es sei noch nicht Zeit für weisse Fahnen“ und auch ihr Supportact Massendefekt setzt auf Widerstand.
Das Publikum dagegen findet in diesem Konzertabend einen Grund, das Leben zu feiern. Manchmal möchte man halt nur „fliegen, um die ganze Scheisse nicht zu sehen“.
Die Z7-Konzerthalle ist gut gefüllt. Der Name Dritte Wahl aber, den T-Shirts der Besucher nach auch Massendefekt, hat aus dem ganzen Land und darüber hinaus Leute angelockt. Bereits vor dem Konzert wird der „Kommerzscheisse“, dazu später mehr, gefrönt und meterweise Merch-Textilien, seltener Mal Tonträger verkauft. Das Bier fliesst in Strömen und macht mengenmässig den parallel überall stattfindenden Oktoberfesten Konkurrenz. Dazu ebenfalls später mehr.
Massendefekt
Zu den Klängen des NDW-Klassikers „Major Tom (Völlig losgelöst …)“ stürmen Massendefekt die Bühne und lösen diesen, auf Mallorca und auf den erwähnten Oktoberfesten zu Tode gespielten, Hit durch weniger bekannte, dafür umso deftigere Klänge ab. Das Publikum, gerade aus der Teilnahmslosigkeit hochgeschreckt, goutiert das mit ersten Mosh-Versuchen, die im Verlauf des Abends immer wilder und für einzelne Individuen vielleicht ein wenig gefährlich werden sollen.
Dem Auftrag, als Supportact das Publikum vorzuwärmen, kommen Massendefekt unumstritten nach. Um auf Nummer sicher zu gehen, setzt man nebst den eigenen Liedern auf ein Cover von Pennywise’s „Bro Hymn“ (DEM Ooooh Oooooh Song), etwas, was im Grunde immer gut ankommt. Selbst in einer grauenhaften Ländlerversion an einer lahmen Erst-August-Feier, über die, Gott sei Dank, kein Review geschrieben werden musste. Spätestens nach dem sich durch das gemeinsame Oooh-oooh-oooh-Singen eine Symbiose zwischen Musiker und Hörer gebildet hat, fressen die Zuschauer Massendefekt aus der Hand und lassen sich auch bei Nicht-Cover-Songs auf Mitmachspielchen ein: Springen auf Befehl aus der Hocke in die Luft oder leisten dem Folge, was sonst noch so aus dem Konzert-Animator-Lexikon aufgetragen wird.
Ganz im Sinne des Do-it-yourself-Gedankens des Punks, verzichten Massendefekt auf ausgefeilte Showelemente, stellen nur sich, einigermassen uniformell in Schwarz gekleidet, auf die Bühne und überzeugen einzig mit ihrer Musik, die, durch die zweite Gitarre eigentlich zu voluminös, oft auch zu melodiös, für den klassischen Punkrock klingt. Diskussionen und Überlegungen, was jetzt „real“, wer Punk und wer Poser ist, sind an diesem Auftritt angenehmerweise nicht Teil verfrühter Kritiken an dem Dargebotenen. Die Zeiten sind zu schwerfällig, als dass man sich das, was einem Spass bereitet, verkorksen möchte.
Die Beleuchtung der Bühne fällt, wie der restliche Auftritt, eher simpel aus, wird dafür umso kreativer eingesetzt. Auf ein Meer aus vielen verschiedenen Farben wird verzichtet. Der Unterschied zwischen Hell und Dunkel reicht, um zur richtigen Zeit die richtigen Bereiche der Bühne zu betonen und Akzente zu setzen.
Nach dem energiegeladenen Start stapfen Massendefekt im Mittelteil des Auftritts durch Felder aus pompösen Hymnen, die beim Publikum nicht minder gut ankommen, wie die Powersongs, und hie und da Assoziationen mit einer Band aus Düsseldorf aufflammen lassen, von der sie auch einst Vorband waren.
Abgeschlossen wird der Auftritt mit allem, was die Energiereserve noch hergibt. Nur eine Stunde spielen zu „müssen“, hat für einen solchen Abriss auf jeden Fall auch seine Vorteile.
Die Setliste – Massendefekt
- Der Weg
- Bro Hymn (Pennywise Cover)
- Nicht OK
- Nimm mich mit
- Tanz im Nebel
- Disko
- Juni
- Schwarz Weiss Negativ
- Tag am Meer
- Freier Fall
- Wo ich dich finde
- Mauern
- Wellenreiter
- Massendefekt
Dritte Wahl
Nach dem Verstauen der Utensilien von Massendefekt stehen nach einem kleinen Intro Dritte Wahl auf der Bühne. Diese knüpfen an die Spielfreude der Vorband an und führen innerhalb von zwei Stunden quer durch die Jahre ihres Schaffens. Im Mittelpunkt steht das neuste Album und Namensgeber der Tour „Urlaub in der Bredouille“ und bekommt entsprechend die meisten Plätze in der Setlist, doch auch Älteres kommt nicht zu kurz. „Das neue Zeug sei sowieso nur noch Kommerzkacke“, wird erklärt, jedes Mal, wenn ein neues Lied angekündet wird, soll mit Buuuh-Rufen geantwortet werden. Ähnlich selbstironisch ziehen sich die Ansprachen durch die ganze Show. Nebst den ausgefeilten Songtexten und der für eine Punkband ebenfalls eher ausgeklügelten Musik überzeugen Dritte Wahl sicherlich durch ihre Kommunikation mit dem Publikum, auch wenn nicht alles Gesagte aus spontanen Einfällen heraus entsteht, was dann auffällt, wenn man in den vergangenen Monaten bereits ein Dritte Wahl-Konzert besucht hat.
Gitarrist und Sänger Gunnar Schröder hat, wie er berichtet, noch mit den Nachwehen einer Erkältung zu kämpfen. Tatsächlich sind besonders zu Beginn einige Stimmbruch-Ausrutscher hörbar. Ansonsten ist die ein wenig kratzigere Stimme den energiegeladenen, nach vorn preschenden Liedern dienlich.
Die Stimmung steigt weiter an. Die Pits werden grösser und wilder. Immer mehr versuchen sich am Crowdsurfen und lassen sich auch nicht von Vorgängern abschrecken, die in der Menge ertrunken sind. Gebrautes rauscht in einigen Fällen pausenlos die Kehlen hinunter. Wer dabeihat, zündet sein Kraut an. Belastungsgrenzen werden neu definiert und überschritten. So manch einer überschätzt und verliert seinen, oft durch Mischintoxikation angeschlagenen, Gleichgewichtssinn und vergisst, dass sein Körpergewicht bei einem möglichen Sturz nicht unbedingt von den Umstehenden gestemmt werden kann. Es kann nur am Chaosprinzip liegen, wie es für gewöhnlich an Veranstaltungen wie dieser herrscht, dass es zu keinen nennenswerten Vorfällen kommt.
Optisch untermalen Dritte Wahl ihre Lieder durch LED-Screens, die Ausschnitte aus Musikvideos oder andere, das Gespielte ergänzende Visualisierungen zeigen. Ansonsten ist der Auftritt visuell eher simpel gehalten. Wie bereits Massendefekt überzeugen eine minimale aber interessant umgesetzte Lichtshow, passend eingesetzte Nebelfontänen und insbesondere eine einwandfreie Abmischung, die höchstens mit der gesetzlichen Maximallautstärke ins Hadern kommt.
Viel mehr als für das, was auf der Bühne abgeht, scheint sich die Band selbst dafür zu interessieren, was vor ihr passiert. Ebenfalls wie Massendefekt schöpfen sie aus vielen Kapiteln des Lexikons der Konzertanimationen und erweitern dieses um einige weitere. So soll man nebst dem Ausbuhen von neuen Songs alte mit Gejubel begrüssen, darf mit dem Bandlogo bedruckte Strandbälle durch die Luft schleudern, die Komplexität der deutschen Konjugationen beim Mitgrölen von Liedern wie „Zusammen“ erleben oder konzerttypische Trainings absolvieren, wie das der Sprunggelenke.
Wie zu erwarten, endet das Konzert nicht mit dem vermeintlich letzten Song, sondern geht in einen Zugabenblock über. Dass dieser bei Dritte Wahl mit ihrem Ohrwurm der Ohrwürmer „Fliegen“ endet, ist für mit der Band bereits Vertraute ebenso wenig verwunderlich wie, dass der Refrain („Aber ich möchte fliegen, ganz weit oben überm Meer…“) noch lange vom Publikum weiter gegrölt wird, wenn die Band die Bühne längst verlassen hat. Eher überraschend ist, dass es zu einer erneuten Rückkehr von dieser kommt und weitere Zugaben gespielt werden. Für den tatsächlichen Schluss kommt erneut „Fliegen“ zum Einsatz, dieses Mal in der „Sommerversion 2022“, einer Edition, die dem Punk abgeschworen hat und dem Reggae huldigt. Das Publikum singt, die Band wird eingespielt. Die Bühne verlässt sie trotzdem nicht. Anstelle Instrumente bespielt und Mikrofone angeschrien, wird, an Ausdruckstanz erinnernd, gestengestützt der Inhalt des Textes vermittelt. Dritte Wahl laufen sicherlich nicht Gefahr, in ein Loch aus Arroganz und Selbstüberschätzung zu fallen. Die über allem schwebende Brise Selbstironie schadet ihrer Sympathie auf keinen Fall.
Die Setliste – Dritte Wahl
- Wir schiessen die Milliardäre ins All
- Kleiner Planet
- Panama
- Zu wahr um schön zu sein
- Steine im Weg
- Edwin Aldrin
- Halt mich fest
- Keine Zeit für weisse Fahnen
- Zusammen
- Das regelt der Markt
- Zum Licht empor
- Alles nur Chemie
- So wie ihr seid
- Urlaub in der Bredouille
- Auge um Auge
- Was weiss ich schon von der Liebe
- Runde um Runde
- Zeit bleib Stehen
- Greif ein*
- Tobias*
- Fliegen*
- Der Himmel über uns**
- Wo ist mein Preis?**
- [Playback] Fliegen (Sommerversion 2022)**
*Erster Zugabenblock
**Zweiter Zugabenblock
Das Fanzit – Dritte Wahl, Massendefekt
Massendefekt und Dritte Wahl leisteten das, was von ihnen erwartet wurde und noch mehr. Technisch funktionierte alles einwandfrei: Die Abmischung war in Ordnung. Die krankheitsbedingt heisere Stimme eines Sängers zeugte von Authentizität und wäre für die Massstäbe der Bewertung eines Punkkonzertes sowieso mehr oder weniger irrelevant.
Das Publikum hat ebenfalls mitgezogen und gezeigt, dass es in der Schweiz eben auch anders als zurückhaltend und scheu vonstattengehen kann. Persönlich störte ich mich, wie man dieser Review vielleicht bereits entnehmen konnte, an Konzertteilnehmern, die Mengen an Genussmitteln konsumierten, unter denen sie ihren eigenen Körper nicht mehr unter Kontrolle hatten und sich ihr Gleichgewichtssinn eine Auszeit gönnte. Trotzdem wurde in diesem Zustand noch an Moshpits teilgenommen und infolgedessen den Boden geküsst, noch bevor betreffende Personen auch nur angestupst wurde. Bei Individuen, die zusätzlich die Statur einer Bowlingkugel haben und bei einem Sturz inmitten einer Menschenmasse auch als eine solche funktionieren, empfinde ich diesen Überkonsum, insbesondere in Kombination mit den beschriebenen Charakterzügen, besonders unangebracht und gar egoistisch. Wenn man sich für einen Kontrollverlust entscheidet, soll man sich dann konsequent gegen Mitmenschen involvierende Aktivitäten wie Moshpits entscheiden.