Sieg auf ganzer Linie
Deutsche Hardrocker mit Schweizer Sänger: Victory rocken das P9.
Ist es der dritte, vierte, fünfte Frühling, den Victory durchleben? Eigentlich egal – die Deutschen um Gitarrenheld Herman Frank wollen zeigen, dass sie es immer noch drauf haben. Davon überzeugen wollen sich an diesem nasskalten Freitagabend allerdings nur um die gut geschätzt 150 Fans. Doch die werden im P9 garantiert Spass haben!
P9
Wenn man nicht mit dem Auto nach Biberist in die Solothurner Provinz fährt, ist ein langer Fussmarsch fällig. Das Fabrikareal, in dem sich das P9 befindet, ist riesig, ein richtig grosser Umweg ist nötig, damit man da auf das Gelände kommt. Der Club selbst ist mitten in einer grossen Industriehalle. Klein und gemütlich eingerichtet, einzig wenn jemand ein menschliches Bedürfnis hat, ist ein längerer Treppenaufstieg nötig. „Sorgen“ mache ich mir in solch kleinen Locations ansonsten höchstens um Sound (wie erwähnt: grosse Halle) und Licht. Doch letzteres ist zur Freude der Fotografen richtig gut.
Why Amnesia
Nicky und ich sind relativ spät unterwegs und haben uns bereits damit abgefunden, dass wir die erste Band wohl verpassen. Zu unserer Überraschung haben aber Why Amnesia gar nicht gespielt, weil sie an der Grenze Probleme hatten und es schlussendlich nicht nach Biberist geschafft haben. Schade für Band und Fans – gut für uns, dass wir kaum was verpasst haben.
Attractive Chaos
Als wir dann kurz nach 20 Uhr endlich eintrudeln, ist die zweite respektive nun erste Band bereits an der Arbeit. Es handelt sich um Attractive Chaos, welche erst vor zwei Jahren gegründet wurden. Quellen im Internet versprechen Melodic Heavy Metal, doch nicht nur aufgrund des Gesangs von Fronterin Emma Elvaston tönt dies dann deutlich stärker nach Symphonic Metal.
Neben Emma gehören Gitarrist Clément Bolz und Tieftöner Pier Paolo Lunesu zum italienisch-französischem Trio. Die treten heute allerdings zu viert auf, denn natürlich braucht das Chaos zusätzlich einen Trommler. Um wen es sich hier jedoch in diesem Fall handelt, konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen.
Die Performance der Band, speziell auch von Emma, ist erstaunlich professionell, wenn man das Gründungsjahr bedenkt. Musikalisch kommen vor allem Fans von Symphonic Metal auf ihre Kosten. Immer mal wieder gibt es böse Growls, die nehmen schlussendlich jedoch nicht komplett überhand. Die Fronterin steht – nicht nur aufgrund ihres Outfits – klar im Fokus. Dass die Dame jedoch (zu) oft in sehr hohe Töne abdriftet, finde ich nicht so prickelnd.
Mal gibt es auch progressive Einschübe, mal tönt es orientalisch. Abwechslung wird geboten, doch am Ende ist es ein Track namens „Come To Me“, welcher mich doch richtig packt. Das geht in Richtung Power Metal, garniert mit einem ohrwurmigen Refrain. Doch, DAS gefällt jetzt. Nach etwa 50 Minuten ist dann jedoch Schluss, das attraktive Chaos wird von den Fans mit wohlwollendem Applaus verabschiedet.
Victory
Victory sind zurück. Die Band, die zu den besten Zeiten mit dem Schweizer Sänger Fernando Garcia zwei unsterbliche Klassiker aufgenommen hat. Doch wie viele andere, wurden auch sie von der widerlichen Grunge-Welle weggespült. Offiziell existiert die Truppe seit 1984 mit Unterbrüchen von 1996 bis 2003 sowie 2011 bis 2013 (je nachdem, welche Quellen man anzapft). In der Realität war es zumindest halt sehr ruhig, zumal Herman Frank zwischenzeitlich ja ebenfalls wieder bei Accept anheuerte.
Doch nun sieht es danach aus, dass endlich ein stabiles Line-up zustande gekommen ist. Neben Frank spielt Mike Pesin an der zweiten Gitarre, Malte Burkert ist für den Bass zuständig. Hinter der Schiessbude sitzt Michael Stein – und der Gesangsposten ist wieder an die Schweiz vergeben. Gianni Pontillo ist da mit seiner rauen Stimme musikalisch der perfekte Mann, dazu ist er ein erfahrener und souveräner Fronter. Ein Beleg für diese Stabilität ist zweifellos das aktuelle Album „Circle of Life“, die Review dazu von unserem Rossi könnt hier nachlesen.
Halb zehn – die Zeichen stehen auf Sieg! Eher überraschend starten Victory mit „Gods Of Tomorrow“, dem Titeltrack des vorletzten Albums, in ihre 90-minütige Show. Kann man machen, ist jedoch kein schlechter Entscheid. Mit „Rock The Neighbours“ und dem Klassiker „Are You Ready“ wird grad noch eine weitere Schaufel Kohle nachgelegt, die Stimmung wird angeheizt.
Die Setliste beinhaltet einige Überraschungen. Eigentlich hätte man erwartet, dass „Circle Of Life“ zusammen mit den Klassikern im Fokus steht. Doch mit „Feel The Fire“ sowie „Love & Hate“ finden sogar zwei Titel vom 1987er-Werk „Hungry Hearts“ den Weg ins Programm. Ein längst vergriffenes Album, welches sogar in meiner Sammlung fehlt…
Nach dem überragenden „Always The Same“ zeigt Herman Frank seine Skills. Im Gegensatz zu seinem Gegenpart Mike Pesin braucht der Meister für das ganze Programm nur ein einziges Spielgerät. Und irgendwie erstaunt es, was der damit klanglich hinzaubert: Seine Klampfe scheint nur von Gaffer-Tape oder anderem Klebeband zusammengehalten sein! Ok, ist jetzt etwas übertrieben, doch schaut euch die Fotos an… Stark ist es so oder so! Kein Wunder, strahlt nicht nur Frank über das ganze Gesicht.
Eskalationen in Reihe 1. „Temples Of Gold“, einer dieser unsterblichen Klassiker, lässt mich komplett austicken – der direkt im Anschluss folgende Nackenbrecher „Tonight We Rock“ tut ein Übriges, um mich in die Knie zu zwingen. Fraglos der beste Part der Show. Findet auch mein Nacken am nächsten Tag. Ach ja – und endlich ist ein ganz neuer Song da!
Denn Victory haben sich ihren Lebenskreis ganz offensichtlich für das Ende aufgespart. Mit „Moonlit Sky“, dem starken „Count On Me“ sowie „Virtual Sin“ sind noch drei weitere Neulinge im Programm, nur unterbrochen durch die zwei Klassiker „Rock’n’Roll Kids Forever“ und „Don’t Tell No Lies“.
Generell ist Musik Trumpf, Gianni hält sich mit Ansagen zurück, es gibt kaum Unterbrüche. Zwischendurch erklärt der Basler aber doch, dass dies fast ein Heimspiel sei für ihn und er wohl etwa 90% der Fans kenne. Ob dies seine unbändige Spielfreude noch mehr anheizt, weiss nur er selbst. Der Rest der Band ist jedoch ebenfalls äussert motiviert und so gut gelaunt habe ich Herman Frank in all den Jahren auch selten gesehen. Übrigens: Sogar von Berlin sind heute Leute angereist!
Und schon ist es Zeit für Zugaben. Das überragende „On The Loose“ macht hier den Anfang und beschert mir grad einen ziemlichen Güggel auf meinen Armen. Läck, das ist einfach nur geil! Dass „Check’s In The Mail“ im Anschluss das endgültige Finale ist, überrascht niemanden und freut wohl alle. Victory is back – Sieg auf ganzer Linie!
Das Fanzit – Victory, Attractive Chaos
Ein sackstarker Auftritt von Victory mit einer stellenweise überraschenden Setliste. Dass die Klassiker von „Culture Killed The Native“ und „Temples Of Gold“ halt die musikalischen Highlights sind, ist irgendwie logisch. Doch auch neueres Material („Tonight We Rock“!) vermag durchaus zu überzeugen und macht Spass.
Attractive Chaos machen ebenfalls einen überaus anständigen Job, musikalisch packt es mich jedoch (noch) nicht so sehr.
Und sonst? Das P9 ist eine recht coole Location. Einzig der Weg dahin für Nicht-Autofahrer ist etwas mühsam. Doch sonst – gute Organisation, freundliches Personal überall, da gibts nichts zu klagen!
Ah ja: Ich bin je länger je mehr für Handyverbot an Konzerten. Warum man während 80% der Show (ungelogen) sein Handy auf die Bühne hält zum Filmen, werde ich in diesem Leben nie verstehen. Zumindest ich geniesse lieber die Musik, die Bands, die Emotionen – genau dies haben Victory geliefert!
Die Setliste Victory
- Gods of Tomorrow
- Rock the Neighbours
- Are You Ready
- Take the Pace
- Standing Like a Rock
- Feel the Fire
- Love & Hate
- Hungry Hearts
- Always the Same
- Children (Guitar Solo)
- Temples of Gold
- Tonight We Rock
- Moonlit Sky
- Rock’n’Roll Kids Forever
- Don’t Tell No Lies
- Count on Me
- Virtual Sin
- On The Loose*
- Check’s In The Mail*
*Zugaben