Die Lawine donnert zu Tal
Wer einmal ernsthaft in den Bergen gewandert ist, weiss, dass sie für Körper und Geist herausfordernd sind. Die Anstrengung, das Leid, die nötige Willenskraft, um den Gipfel zu erreichen: Eine mehrstündige alpine Wanderung kann eine tiefe meditative und kathartische Wirkung haben. Paysage d’Hiver waren nie für die schnelle Hörstunde zu haben, denn sie fangen solche transzendentalen Erfahrungen musikalisch ein, und zwar gründlich.
Der Mastermind Wintherr fordert auch diesmal den Hörer mit sechs ausgedehnten Kompositionen heraus, die zusammen auf eine Spielzeit von über hundert Minuten kommen und die Geschichte des Wanderers – des Protagonisten im Universum von Paysage d’Hiver – weitererzählen. Ob seine Reise hier enden wird?
Wenn ich im Review zu «Geister» über die fehlende Kälte klagte, musste ich bei «Die Berge» sofort den Kragen hochziehen und eine Kappe anlegen. Das dichte Klanggewand katapultiert uns in Gedanken in einen heftigen Schneesturm, in den Bergen und nachts, der die Augen trübt und frostklamme Finger beschert. Meiner Wahrnehmung nach lassen sich auf «Die Berge» drei oder sogar vier Kapitel erkennen: Der Wanderer meditiert über den Sinn oder Grund seiner Reise, kämpft dann gegen sich selbst und den Berg, um endlich sein Ziel und womöglich die Erleuchtung zu erreichen. Ob dahinter auch eine Allegorie des Lebens im spirituellen Sinne versteckt ist?
Das schnelle Tempo im ersten Kapitel und Wintherrs wütendes, aber langsames Knurren der Texte, das an eine Litanei erinnert, stehen im Kontrast zueinander, wirken aber zusammen so bedrohlich und intensiv, dass sie gelegentlich einem fast den Hals zuschnüren. Die zwei Abschnitte «Urgrund» und «Verinnerlichung» treiben die Hörenden und lassen sie aufgewühlt zurück. Es gibt nur wenige Tempowechsel, aber die Variationen des Grundriffs, die fast unauffällig ineinanderfliessen, bilden das Gegengewicht, das für Balance sorgt.
Das langsamere Triptychon «Transzendenz» wirkt rituell, beginnt entschlossen und mit Bombast, wird schleppend und endet in gefühlter Verzweiflung. Wintherr vertont darin die Bezwingung des Berges und lässt die Zuhörer in die Haut des Protagonisten seiner Erzählung schlüpfen. Der Einsatz von Synthesizern fügt der Szenerie eine weitere dramatische Note hinzu. Wer achtsam den Phrasen lauscht, kann bei «Transzendenz III» sich gut den Wanderer vorstellen wie er, vor Erschöpfung gebeugt, einen Fuss vor den anderen setzt, um dem über ihn ragenden Gipfel einen kleinen Schritt näher zu treten.
Danach tobt in «Ausstieg» der Sturm weiter. Die Eiskristalle bedecken alles, was bald vergangen sein wird. Der Schnee legt sich wie eine frostige Decke sanft auf den Wanderer, der einschlafen wird. Der Wind fegt alles Vergängliche weg. Die Piano-Akkorde gegen Ende des Stücks setzen Akzente, die Ennio Morricone würdig wären und die Tristesse des Augenblicks hervorheben.
Der instrumentale Abschluss «Gipfel» lässt mich etwas grübeln. Das irdische Dasein des Wanderers ist zu Ende, nun ertönt etwas, was sich wie ein Trauermarsch anhört: schleppend, melancholisch aber auch zurückhaltend feierlich. Wird hier der Wanderer in die metaphysische Ebene erhoben?
Das Fanzit zu Paysage d’Hiver – Die Berge
Dramatisch: Dieses Adjektiv beschreibt am besten die Bilder, die Wintherr mit «Die Berge» erzeugt. Black Metal sollte mit Emotionen und Gefühlen verbunden sein und Paysage d’Hiver setzen etliche Kniffe ein, damit ihre Fans die Musik körperlich erfahren. Diese bernische Band ist trotz fast drei Dekaden auf dem Buckel ein Underground-Phänomen, das immer noch Garant ist für Alben, die das Kopfkino aktivieren und konzeptuell oft Merkmale einer Oper zeigen.
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Die Trackliste von Paysage d’Hiver – Die Berge
- Urgrund
- Verinnerlichung
- Transzendenz I
- Transzendenz II
- Transzendenz III
- Ausstieg
- Gipfel