

Die Legende lebt im Old Capitol
Geoff Tate live zu erleben, ist mehr als ein Konzert. Es ist eine musikalische Zeitreise durch die Geschichte des Progressive Metal. Am 21. Februar 2025 machte die ehemalige Stimme von Queensrÿche zusammen mit Inner Vitriol Halt im Old Capitol in Langenthal. Ein Abend, der Fans anspruchsvoller Rockmusik in seinen Bann zu ziehen versprach.
Der am 14. Januar 1959 in Stuttgart geborene Geoffrey Wayne „Geoff“ Tate, Sohn eines US-Army-Offiziers, war der erste Vokalist, den ich je live auf der Bühne erleben durfte. Es war am 29. November 1986 in der Festhalle Luzern, als Queensrÿche als Vorgruppe für Bon Jovi auftraten. Letztere schickten sich gerade an, mit ihrem dritten Album „Slippery When Wet“ die Rock-Welt im Sturm zu erobern.
Von der mir damals noch gänzlich unbekannten US-amerikanischen Progressive-Metal-Formation aus Seattle nahm ich zwar am Rande Notiz und erwarb pflichtbewusst ihre beiden bis dato erschienenen Alben „The Warning“ und „Rage For Order“. Zunächst schien dies aber dann auch alles zu sein. Doch je mehr Zeit verging, desto häufiger rotierten diese Scheiben auf dem Plattenspieler. Mein Interesse an diesem reizvollen, für mich neuartigen Sound war geweckt – nicht zuletzt dank der überragenden Stimme von Geoff Tate, die mich wie magisch in ihren Bann zog. So entfachte sich die Flamme einer wohl lebenslangen Faszination.
Schwenk in die Gegenwart. Nach den eisigen Tagen zuvor bietet der heutige halbwegs milde Februarabend die ideale Gelegenheit, in den Oberaargau zu pilgern. Ziel ist Langenthal, einst als „Durchschnittsstadt der Schweiz“ bekannt, wo ich im Old Capitol den Klängen vergangener Tage lauschen werde – für mich eine Premiere in Sachen Veranstaltungsort. Das ehemalige Kino, dessen Leinwand im Juni 2012 zum letzten Mal flimmerte und das seit 2017 als eine der schönsten Clublocations der Schweiz gilt, erweist sich als perfekte Kulisse für diese Reise durch 40 Jahre Metal-Geschichte.
Hier umweht ein Hauch vergangener Zeiten die Szenerie – wie passend für das bald Kommende, wird die Setlist des Hauptacts doch (Achtung: Spoiler-Alarm) grossteils aus Stücken des letzten Jahrtausends bestehen. Level der Vorfreude? Jede Skala sprengend!
Inner Vitriol
Doch bevor der Mann, der mich in meinen Kanti-Tagen zu zwei Jahren Solo-Gesangsunterricht inspiriert hat, die Spielfläche betritt, eröffnen die italienischen Dark-Prog-Metaller aus dem geschichtsträchtigen Bologna den Abend. Inner Vitriol, mit zwei Alben in ihrem Repertoire, präsentiert hauptsächlich Stücke von ihrem 2023 remasterten Werk „Into The Silence I Sink“, das den Kern ihres heutigen Sets bildet. Die Band aus der Emilia-Romagna Region nutzt die Gelegenheit, ihr düsteres und introspektives Material vor dem Hauptact zu präsentieren.
„Vitriol“ (der Name, unter dem die Combo früher auftrat) stammt aus einem alchemistischen Motto der Renaissance: „V.i.t.r.i.o.l.“. Es bedeutet, dass man durch Selbsterforschung verborgene Wahrheiten finden kann. Der Begriff hat zwei Bedeutungen: der Weg zur Selbsterkenntnis und eine ätzende Chemikalie. Diese Dualität passt zur Formation, die Aggressivität und Selbstreflexion in sich vereint. Soweit die eigene Definition, da man so erst mal sacken lassen muss.
Das musikalisch Dargebotene bewegt sich dabei genretypisch zwischen „sehr gefühlvoll“ und „harte Beats mit intensiven Ausbrüchen“. Die Südländer wissen mit ihrem dunklen, atmosphärischen Klangwelten, den komplexen Kompositionen, technisch versierten Riffs sowie emotional vorgetragenen Vocals durchaus zu gefallen. Allerdings wummert der Sound, zumindest von meinem Standort aus betrachtet, eher etwas dumpf, undifferenziert und Drum-lastig aus den Boxen. Wobei fairerweise angemerkt werden muss, dass gerade in Räumlichkeiten mit einer Galerie wie dem Old Capitol das Hörerlebnis je nach Stehposition stark variieren kann.
Gleichwohl gelingt es dem Quartett relativ problemlos, die nach und nach eintrudelnden Gäste in ihren Bann zu ziehen, was nicht zuletzt der unermüdlichen Publikumsinteraktion von Frontmann Gabriele Gozzi zu verdanken sein dürfte. Oder am barfüssigen Auftritt von Gitarrero Michele Di Lauro – lustig anzusehen. Auf alle Fälle verlieren die Anwesenden recht schnell ihre Berührungsängste und lassen sich vom Meer des düsteren Sounds mitreissen – viel wohlwollender respektive begeisterter Applaus inklusive.
Mein persönliches Highlight der Performance ist der gleichnamige Titeltrack ihrer neuen EP „Butterflies“, der gemäss Gabriele im Original eine beeindruckende Länge von 17 Minuten aufweise. Hier und heute würde man jedoch nur die auf 10 Minuten herunter gekürzte „Radio Edition“ zum Besten geben. Was indes noch immer genügend Zeit böte, um den Text zu lernen und munter mitzusingen. Mit im Set findet sich zudem mit „Impressioni di Settembre“ auch eine Cover-Version ihrer Landsleute von P.F.M. (ausgeschrieben: Premiata Forneria Marconi), die in den frühen 1970er Jahren gegründet wurden und zu den wichtigsten Vertretern des Progressive-Rock in Italien zählen.
Alles in allem erleben wir einen sehr coolen, mitreissenden Gig der Italiener, der wie bereits erwähnt einen etwas geschliffeneren, klareren Sound hätte vertragen können. Definitiv eine Band, die man im Auge behalten sollte.
Die Setlist – Inner Vitrio
- Intro – A Frozen Whisper
- Slowly She Dies
- The Frozen Wind
- Butterflies
- Impressioni di Settembre (P.F.M. cover)
- Endless Spiral
Geoff Tate
Nach den Umbauarbeiten bevölkert nun eine deutlich grössere Besetzung die Bühne des Old Capitols: Über-Vocalist Geoff, ein Drummer, ein Tieftönmeister sowie – sehr cool – ein echter Keyboarder. Plus … ein, zwei, … gleich drei Gitarristen komplettieren die Truppe. Metal ist ja weitestgehend ein Gitarren-dominiertes Ding, aber der ehemalige Queensrÿche-Shouter scheint hierbei heute Abend wahrlich aus dem Vollen schöpfen zu wollen. Was sich ich in der Folge insbesondere in Bezug auf die energiegeladene Bühnenshow als echter Knaller erweisen wird!
Wie erwartet drückt das Septett denn auch von der ersten Minute an das Gaspedal ordentlich durch. Mit einem Opener wie „Empire“ kannst du ja schliesslich nichts verkehrt machen. Songtechnisch lässt sich der Auftritt salopp gesagt in – ich nenn’s mal – Silberling-Blöcke aufteilen, worin jeweils zwei bis drei Stücke des gleichen Albums zusammengefasst werden. Ein Blick auf die Setlist hilft sicherlich, diese etwas sperrige Beschreibung besser zu verstehen. Wobei das 1990 erschienene und mehrfach mit Platin ausgezeichnete Werk „Empire“ mit zwei zusätzlichen in der Playlist eingestreuten Tracks einen besonderen Platz einnimmt. Was nicht weiter überrascht, zählt es neben „Rage For Order“ sowie dem magistralen „Operation: Mindcrime“ doch zu den Longplayern, die im Schaffen des ehemaligen Queensrÿche-Sängers eine ganz besondere Stellung einnehmen.
Nicht minder fehlen dürfen zudem zwei weitere Überhymnen, nämlich „Take Hold Of The Flame“ sowie „Queen Of The Ryche“, die beide im Zugabenteil zu ganz speziellen Ehren kommen. Das etwas orientalisch angehauchte „Desert Dance“ (vom 2003er Werk „Tribe“) sowie das groovige „Sacred Ground“ vom Pre-Millenniums-Eisen „Q2K“ sind zwar dabei, hätten aus meiner Sicht aber gerne durch Kracher wie „Anybody Listening“, „Roads To Madness“ oder „London“ ersetzt werden können – doch bekanntlich sind Geschmäcker ja verschieden. Die Setlist zeichnet so nicht nur Tates musikalische Reise nach, sondern spiegelt gleichwohl die Höhepunkte seiner Karriere wider, was das Publikum im Old Capitol in Langenthal sichtlich zu schätzen weiss.
Bleibt die Frage, warum bei der Fülle an herausragendem Material aus eigener Feder eine Cover-Nummer von Pink Floyd – „Welcome to the Machine“ – mit eingebaut werden muss. Zwar bietet der Song eine ideale Plattform für ausgedehnte Soli aller Bandmitglieder, dennoch bleibt meine Stirn ob diesem Entscheid leicht gekräuselt.
Wie bereits eingangs angetönt, lässt auch die visuelle Ausgestaltung der Show wahrlich keine Wünsche offen. Auf der Bühne jagt ein mitreissender Moment den nächsten: Immer wieder formieren sich neue Paare und Trios, die zusammen abrocken und das Publikum in Verzückung versetzen. Geoffs Mitstreiter zeigen dabei ohne Ausnahme, dass sie ihr Handwerk wahrlich beherrschen. Überhaupt ist es unfassbar, welche Power die beteiligten Akteure hier aufs Parkett stanzen. Und besonders die Momente, in denen die Gitarristen Schulter an Schulter am Bühnenrand performen, sind einfach nur gigantisch (Fanboy-Momente inklusive)!
Wie ich in Gesprächen während der Umbaupause erfahren habe, sind einige Fans extra aus Genf angereist. Der Meister ruft, seine Anhänger folgen. Und gelohnt hat es sich alleweil! Nicht zuletzt wegen Tates kraftvoller Stimme, die wohl Generationen von Metalheads geprägt hat. Zu Recht gilt der ausdrucksstarke Virtuose, der mit seiner Frau Susan eine eigene Weinmarke namens „Insania“ anbaut und vertreibt, seit jeher als einer der einflussreichsten Sänger des Genres.
Nun, Geoff wäre nicht Tate, wenn er zwischendurch nicht die eine oder andere Anekdote aus seiner bald 45-jährigen Karriere zum Besten geben würde. So sei er im vergangenen Jahr gerade mal 11 Tage zu Hause gewesen. Wozu er da Bett oder Auto benötige? Eine Frage, die wohl nur echte Weltenbummler, die bereits stattliche 66 Länder betourt haben, zu umtreiben vermag. Zudem haben es ihm technische Gadgets mehr als nur angetan. „Wir leben in wahrlich fabelhaften Zeiten. Aber wer erinnert sich noch an die 80er Jahre? Wer war dabei?“ (Nicht wenige Hände im Publikum schiessen in die Höhe). „Wenn wir heute erzählen, wie cool es damals war, denken die Leute, dass wir lügen.“ Wohl wahr …
Bei der Ankündigung der Überballade „Silent Lucidity“ schwingt ein Hauch von Sentimentalität in den Worten des Gesangsgrossmeisters mit. Noch heute, 35 Jahre nach der Veröffentlichung, bekommt er Briefe von Fans, die sich auf diesen Song beziehen. Tate erzählt, dass das Lied sowohl bei Hochzeiten als auch bei Beerdigungen gespielt werde. Es erklinge bei Geburten – und sogar dann, wenn Babys gezeugt werden. Mit einem verschmitzten Lächeln, das Bände spricht, fügt er hinzu, dass dies bei ihm selbst gleich zweimal der Fall gewesen sei.
Und wie so oft, wenn etwas ganz Besonderes vor sich geht, verfliegt die Zeit viel zu schnell. Alles in allem erleben die zahlreich erschienenen Gäste eine fulminante, energiegeladene und gesanglich auf höchstem Niveau zelebrierte Darbietung, die das Publikum sichtlich zu begeistern vermag. Und auch wenn Todd La Torre mit den aktuellen Queensrÿche zweifellos einen fantastischen Job macht, so werden die heute vorgetragenen Songs bzw. die Epoche der Band, aus der sie stammen, für mich immer und ewig mit der grandiosen Stimme von Geoff Tate verbunden bleiben. Ist so, und daran lässt sich nichts mehr ändern.
Die Setlist – Geoff Tate
- Intro / Empire
- Desert Dance
- I Am I
- Sacred Ground
- The Thin Line
- Operation: Mindcrime
- Breaking the Silence
- I Don’t Believe in Love
- NM 156
- Screaming in Digital
- Walk in the Shadows
- Another Rainy Night (Without You)
- Jet City Woman
- Silent Lucidity
- Welcome to the Machine (Pink Floyd cover)*
- Take Hold of the Flame*
- Queen of the Reich*
* Zugabe
Das Fanzit – Geoff Tate, Inner Vitriol
Geoff Tate lieferte im Old Capitol in Langenthal eine atemberaubende Show ab, die bewies, dass er immer noch zu den ganz Grossen der Progressive-Metal-Szene zählt. Auch wenn sein Stimmumfang vielleicht nicht mehr die allerhöchsten Sphären erreicht, überzeugte der Ausnahmekünstler mit seiner prägnanten Präsenz und einer meisterhaften Performance. Inner Vitriol bereiteten den Boden mit einem soliden, düsteren Progressive-Sound, der vom Publikum begeistert aufgenommen wurde. Alles in allem war der Abend eine elektrisierende Zeitreise durch die Metal-Geschichte, die ein wahres Feuerwerk an Klassikern entfachte und den Fans noch lange in bester Erinnerung bleiben dürfte.
Die Fotos – Geoff Tate, Inner Vitriol
